Die in der EU geplante ePrivacy-Ausnahme ist ein beispielloser Angriff auf unser elektronisches Briefgeheimnis. Für den guten Zweck – die Bekämpfung von Kindesmissbrauch – ist sie völlig ungeeignet.

Manchmal hat man das Gefühl, ein wenig verrückt zu sein. Man liest von einer Sache und denkt – das kann nicht stimmen, darüber würde sich doch alle Welt aufregen. Es stimmt aber. Und scheinbar niemand regt sich auf.

So erging es mir, als ich von der ePrivacy Derogation erfuhr, einem massiven Angriff auf unser elektronisches Briefgeheimnis, mitten aus dem Herzen unserer liberalen Demokratie. Die EU-Kommission hat diesen Gesetzesvorschlag im Eilverfahren auf den Weg gebracht – und …
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… nehmen wir mal an, sie hat es gut gemeint.

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Nehmen wir mal an, sie glaubt, dass es statthaft sei, sämtliche Chatnachrichten, Videochats und E-Mails, die in ganz Europa über die Server laufen, anlasslos und automatisch nach Kinderpornografie(1) und Grooming(2) zu durchsuchen. Milliarden Texte, Bilder und Livestreams am Tag.

Nehmen wir an, sie traut einer KI die Aufgabe zu, auf wundersame Weise sauber zwischen intimen Fotos unter Jugendlichen und übergriffiger Pädophilie zu unterscheiden, zwischen schützenswerter Kommunikation und krimineller Machenschaft.

Und nehmen wir an, sie sei so fest im Glauben an das Gute im Menschen, dass sie Polizeien und NGOs überlässt, brisantes Material massenhaft zu sammeln, zu sichten und zu sicher zu speichern, ohne dass diese Konvolute ihrerseits missbraucht oder in Umlauf gebracht werden.

Nehmen wir weiter an, sie wüsste nicht, dass der Großteil der resultierenden Anschuldigungen falsch sind, sich oft gegen Jugendliche richten und mit Leichtigkeit ganze Exitenzen zerstören können.

Nehmen wir an, der Mechanismus sei unbekannt, mit dem Innenpolitiker nach immer mehr Überwachung gieren – sei es, um Handeln zu simulieren, um Gelder einzusparen, um Lobbyisten zufrieden zu stellen oder ihrem Ideal einer gefühlten Sicherheit näher zu kommen. Es bestünde der ehrliche Glaube, dass die installierte Überwachung nicht bei der nächsten Terror- oder Drogenkrise auf weitere Felder ausgeweitet würde oder auch dann niemals zur eigenen Machtsicherung missbraucht würde.

Nehmen wir zuletzt an, die EU-Kommission lebe auf einem glücklichen Planeten, ohne Autokratien und Diktaturen, in denen das Vorbild der EU nur allzugern und vollkommen legitimiert übernommen werde.

Selbst wenn man all dies voraussetzt, ist es immer noch völlig unbegreiflich, wie man auf so eine Idee kommen kann.

Ebensogut könnte man alle Briefe öffnen, alle Mülleimer scannen und alle Wohnungen, Keller, Schrebergärten und Wälder mit Kameras und Mikrophonen ausstatten, in der Hoffnung, Hinweise auf Kindesmissbrauch zu finden. Wie kommt es, dass das Argument „Dies könnte gegen Kindesmissbrauch helfen“ dazu taugt, das Wahlverhalten der meisten EU-Parlamentarier kurzzuschließen? Es müsste doch auffallen, dachte ich, welcher immense Schaden damit an unseren Grundrechten entsteht. An unseren demokratischen Prozessen, am Lebensgefühl jedes einzelnen Menschen, wenn wir wüssten, dass unsere gesamte Kommunikation unter Generalverdacht steht.
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Ja, Kindesmissbrauch ist ein furchtbares Verbrechen.

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Es ist ein absolutes Gebot und eine lohnende Anstrengung, wirksam dagegen vorzugehen. Aber wer sich mit der Materie befasst hat, weiß, dass dieses Mittel untauglich ist, ja sogar kontraproduktiv. Kriminelle finden andere Wege, sich auszutauschen. Denn schon eine ganze Weile lang scannen Google und Microsoft ihre Datenspeicher nach Kinderpornografie. Die Zahl der Fälle, in denen pädosexuelle Straftaten tatsächlich auf diesem Wege zur Verurteilung gebracht wurden, ist verschwindend klein – vermutlich gerade mal zweistellig.

Doch letztlich war ich mit meinem extremen Umbehagen nicht allein. In der europäischen Politik, unter Juristen, in netzpolitischen Fachkreisen und in meiner Humanistischen Giordano-Bruno-Stiftung fand ich genug Gleichgesinnte, die mich darin bestärkt haben, gegen diese Gesetzesinitiative aktiv zu werden. So haben wir in der gbs einen Brief an ale EU-Parlamentarier*innen aufgesetzt, der ab heute von jedermann mit unterzeichnet werden kann.

Patrick Breyer, MdEP von der Piratenpartei, beim Lesen seines Exemplars.

Patrick Breyer, MdEP von der Piratenpartei, beim Lesen seines Exemplars.

Und wir haben dafür gesorgt, dass unsere Irritation für sie erfahrbar wird: Die 705 Briefe wurden von uns geöffnet und auf verdächtige Inhalte hin „durchsucht“. Ein ehrfurchgebietendes Siegel mit einer Beschlagnahme-Nachricht weißt aus die „European Task Force Against Child Abuse“ und ihre Website etfca.eu. Dort kann man mit einem (beliebigen) Code erfahren, was es mit dem Fall auf sich hat. Wir hoffen damit, zu einem Umdenken beizutragen.

Vielleicht noch nicht bis zur Abstimmung, die eilig bereits am 6. Juli stattfinden soll. Sie betirfft eine Ausnahme vom Verbot der Durchsuchung – diese ist für die Provider also freiwillig und muss deklariert werden. Doc allerspätestens wenn diese Praxis zur verpflichtenden Regel wird, muss jeder und jedem unter den Parlematrier*innen klar sein, dass es hier um das Fundament unserer Meinungsfreiheit und Demokratie geht.

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Im folgenden ist der Brief wiedergegeben, den wir in englisch, französisch und deutsch versendet haben. Wir bitten darum, ihn auf OpenPetition.org nachträglich zu unterzeichnen.
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Sehr geehrte Mitglieder des Europäischen Parlaments,

wäre Ihnen wohl bei dem Gedanken, dass all Ihre Briefe geöffnet werden, weil sie womöglich verdächtiges Material enthalten könnten? Wenn nicht, übertragen Sie diese Erfahrung bitte auf den digitalen Bereich und stimmen Sie gegen die Aufhebung des digitalen Briefgeheimnisses im Zuge der ePrivacy Derogation!

Die sogenannte „ePrivacy-Übergangsverordnung“ (2020/0259(COD)) würde Anbieter von online Messenger- und Email-Diensten verpflichten, private Nachrichteninhalte automatisiert und in Echtzeit auf verdächtige Text- und Bildinhalte unter Einsatz von fehleranfälliger Künstlicher Intelligenz zu durchsuchen. Sämtliche von der KI identifizierten Verdachtsfälle würden vollautomatisch an Ermittlungsbehörden in der EU weitergeleitet werden – ohne, dass die Betroffenen davon erfahren. Dies soll der Verbreitung von Kinderpornografie im Internet entgegenwirken.

Selbstverständlich teilen wir das Anliegen der Initiative: Kinderrechte sind eine ernste Sache, für die wir uns als Stiftung seit Jahren stark machen. Aber der gute Zweck darf den Blick auf die fatalen Wirkungen des geplanten Mittels nicht verdecken:

  • Das digitale Briefgeheimnis würde de facto abgeschafft. Sämtliche Kommunikationsinhalte würden unterschiedslos und massenhaft erfasst und durchsucht werden. Eine Selbstzensur träte sofort in Kraft. Rechtsgutachten haben gezeigt, dass eine solche massenhafte und verdachtsunabhängige Durchleuchtung privater Kommunikationsinhalte nicht mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar ist.
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  • Falsche Verdächtigungen wären die Regel. Nach Angaben des Schweizer Bundesamtes für Polizei liegt die Fehlerquote der automatischen Nachrichtendurchleuchtung bei rund 86 %! Harmlose Urlaubsfotos oder intime Selbstaufnahmen von Jugendlichen würden eine vollautomatische Weiterleitung privater Nachrichteninhalte und die Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens durch die Polizei nach sich ziehen.
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  • Kriminelle finden schon heute Wege, die Überwachung zu umgehen. Wenn Privatsphäre kriminell ist, haben nur Kriminelle Privatsphäre.
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  • Es würde eine Überwachungs-Infrastruktur geschaffen, die – aller Erfahrung nach – irgendwann auf weitere Bereiche ausgeweitet wird („Mission Creep“). Früher oder später würden Regierende unter dem Eindruck von Terror, Verbrechen oder auch drohendem Machtverlust der Versuchung nicht widerstehen, dieses Mittel auch anderweitig zu nutzen.
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  • Die Erfahrung zeigt: Leaks, Hacks, Fails und Missbrauch sind unvermeidlich. Sammlungen mit potenziellem Erpressungsmaterial würden entstehen. In der Vergangenheit sind Fälle bekannt geworden, in denen Mitarbeitende der Ermittlungsbehörden und NGOs selbst die Weiterverbreitung von Kinderpornografie betrieben haben. Oft würde so das Gegenteil dessen erreicht, was man will – den Schutz der Kinder und der Grundrechte.
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  • Die meisten Gewalttaten gegen Kinder passieren im Verborgenen und werden nicht elektronisch dokumentiert. Prävention wäre das Gebot der Stunde. Eine trügerische „Sicherheit“ hilft niemandem. Gezielte und wirksame Methoden der Strafverfolgung dürfen nicht kaputtgespart, sondern müssen ausgebaut werden.
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  • Viele Betroffene von Kindesmissbrauch und führende Provider sind entschieden gegen die allgemeinen Durchsuchungs-Maßnahmen – wie auch 72 % der EU-Bürger. Das Scannen aller privaten Nachrichten ist kein Ersatz für solide Polizeiarbeit und konkrete Hilfen für die Opfer sexueller Gewalt. Eine repräsentative Umfrage in zehn Mitgliedsstaaten der EU hat gezeigt, dass sich 72 % der Befragten deutlich gegen eine automatisierte Durchsuchung privater Nachrichten aussprechen.

Bitte verstehen Sie uns richtig: Verbrechen gegen Kinder sind furchtbar und verlangen entschiedenes Handeln! Doch eine anlasslose Überwachung unserer Kommunikation ist völlig ungeeignet und schafft ein Klima des Misstrauens in Europa. Wir bitten Sie daher nachdrücklich, sich bei der Abstimmung am 7. / 8. Juli gegen den Gesetzentwurf auszusprechen!

Mit freundlichen Grüßen

Dr. phil. Dr. h.c. Michael Schmidt-Salomon
Vorstandssprecher der gbs

Peder Iblher
Referent für digitale Grundrechte der gbs