„Delete your period tracking apps today.“ Die jüngsten Verbote von Abtreibungen in den USA drängen in die Illegalität, was bisher ein anerkanntes Recht war. Frauen, die sich in einer schwierigen Lage gegen eine Schwangerschaft entscheiden, können zu Mörderinnen gestempelt und mit langjährigen Haftstrafen bedroht werden. Das Urteil des Supreme Court, das dies ermöglicht, ist bigott und frauenfeindlich – und es erhöht den Überwachungsdruck auf Frauen, die künftig unter Verdacht geraten können.
Es sind diese Momente, die einem Bewusst machen: die Dinge bleiben nicht so, wie sie sind. Man denkt „Ich habe nichts zu verbergen“ und steht plötzlich im Fokus staatlicher Ermittlungen. Niemand weiß, woher der Wind morgen weht und sich verdächtig zu machen kann schnell passiert sein, in einer Welt, in der man auf Schritt und Tritt digitale Spuren hinterlässt.
Um staatlichen Behörden keinen Einblick in den persönlichen Status zu geben, löschen Frauen in den USA also ihre Gesundheits- und Verhütungs-Apps. Künftig werden sie diskrete Browser nutzen, um sich über eine Schwangerschaft oder Abtreibung zu informieren. Der medizinische Eingriff wird zur verzweifelten konspirativen Aktion für Frauen, die ohnehin gerade ganz andere Probleme haben. Ihre digitale Sphäre, ihr Smartphone, ihre Freundschaften in WhatsApp, ihre Neugier und Unbekümmertheit werden zum verräterischen Feind.
Wenn wir als Gesellschaft so nicht leben wollen, müssen wir sehr grundsätzliche Entscheidungen treffen. Denn die Ereignisse in den USA sind natürlich kein Einzelfall. Ähnliches erlebt z.B. Polen. Dass sich unsere digitalen Spuren existenziell gegen uns wenden können, ist kein Extremfall. Es ist einfach nur politisch blöd gelaufen. Wann wird in unserem Umfeld aus dieser diffusen Mulmigkeit der Überwachung eine sehr konkrete Bedrohung? Wir wissen es nicht.
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Wieviel Überwachung hält ein demokratischer Rechtsstaat aus?
Wie also bekommt man diesen Teufel namens Überwachungsgesellschaft wieder in die Schachtel? Kürzlich lud die EAID zu einer Gesprächsrunde zu diesem Thema ein. Im Zentrum stand mit der „Überwachungsgesamtrechnung“ ein Ansatz, der sich in Abhilfe versucht: Die Gesamtheit von Überwachungsmaßnahmen sollen erfasst werden, um sie dann in Bezug auf Grundrechte zu bewerten. Mit dem Begriff verbindet sich die Hoffnung auf eine Art Schwellenwert, ab dem Überwachung „nicht mehr okay“ ist.
Eine solche Formel zu entwickeln fordert z.B. der Koalitionsvertrag der Ampelregierung. Im Fokus steht dabei der Staat. Er ist dem Gemeinwohl verpflichtet und an die Verfassung gebunden. Bessere Kriterien zur Bewertung von Maßnahmen könnten hier zu Empfehlungen an die Politik führen. Und in einer idealen Welt würde diese sich daran orientieren. Von einem Moratorium ist gar die Rede.
An Konzepten einer Gesamtrechnung wird derzeit an mindestens zwei Instituten (Poscher/Kilchling und Pohle) gearbeitet. Man mag das als ehrenhaftes Bemühen oder auch als Akademisierung empfinden, in jedem Fall ist es – folgt man den Vorträgen – eine staubtrockene und wirklich komplizierte Sache. Allein die deutschen Bundesgesetze auf ihre Begründungen und Auswirkungen abzuklopfen ist eine Mammutaufgabe, von einer Gewichtung gar nicht zu reden. Eine praktische Anwendung liegt bei aller Mühe wohl noch fern.
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Die Welt ist aber nicht ideal.
Politikerinnen und Politiker sind oft populistischen Versuchungen ausgesetzt. Sie denken an ihre Karriere, sie sind befangen in ihren Ressorts, sie träumen von Kontrolle und versprechen Sicherheit. Auch Machtmissbrauch oder Korruption kommen oft genug vor. Bedenken sind da oft hinderlich und werden gern als „Grundrechts-Fundamentalismus“ oder „Datenschutz-Fetischismus“ verunglimpft. Aber Datenschutz schützt gar keine Daten. Er schützt Informationen von Menschen vor Menschen. Er schützt Freiheiten, Rechte, Diskurse, Selbstbestimmung, Leben.
Das Dilemma ist bekannt: Eine Formel, die die Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland als isolierten Akteur unter die Lupe nimmt, greift natürlich zu kurz. Denn viele weitere Akteure haben an der Überwachung Teil: die Bundesländer, die EU, andere Staaten (darunter die Five Eyes oder China), die reale Praxis in Exekutive und Geheimdiensten, private Plattformen, Sicherheits- und Spionagefirmen, Hacker sowie übergriffige oder kriminelle Privatpersonen.
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Fragen wir mal so herum:
Macht „der Staat“ denn wenigstens dort seine Hausaufgaben, wo es eindeutig angezeigt wäre? Die bis heute unbereinigte NSA-Affäre hätte ja etwa zu einer massiven Entkoppelung sensibler Datenströme von den USA (wie auch von Russland und China) führen müssen. Daran hat aber kaum jemand Interesse, auch nicht die Bundesregierung oder die EU-Kommission. Wie wir wissen sind die Auswirkungen seit den Schrems-Urteilen überschaubar. Autarke europäische oder Privacy-freundliche Software steckt noch immer in den Kinderschuhen oder wird nicht so begeistert angenommen, wie sie es oft verdient hätte.
Auch die quälende Umsetzung DSGVO zeigt, wie schwierig es ist, als richtig erkannten Paradigmen im Alltag gerecht zu werden – in diesem Fall dem Prinzip der „informierten Zustimmung“. Nicht mal eine einmalige Browsereinstellung, die uns vor nervigen Cookiebannern schützen könnte, will man den Herstellern zumuten, obwohl wir alle darüber happy wären.
So stellt sich langsam die Frage, ob die Regierung eine Überwachungsgesamtrechnung auch dann ernst nehmen würde, wenn das Ergebnis unbequem wäre.
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„We want Google to be the third half of your brain.“
… lautet ein Zitat des Google-Gründers Sergey Brin. Die privaten Big-Tech-Plattformen haben die Verwertung unserer Daten als Geschäftsmodell und wissen sehr genau, was sie tun. Auch sie lassen sich von hauseigenen Forscherinnen und Ethikern beraten – um deren Ergebnisse dann meist zu verwerfen, statt ihre Geldmaschine auch nur um ein My zu drosseln.
Dazu haben manche von ihnen den Stellenwert öffentlicher Räume, ihrer Erfassung kann man sich selbst als Daten-Asket kaum entziehen. Sie durchforsten unseren Freundeskreis, analysieren unsere Interessen, sie beeinflussen unser Verhalten und unsere Meinung über Dinge. Anders gesagt: Sie spielen mit uns Gott – und geben das intern auch zu.
Diese gewaltigen Konzerne sind schwer zu regulieren. Ob sie Grundrechten verpflichtet sind, ist fraglich – normalerweise sind es die Staaten, die für deren Durchsetzung verantwortlich sind. Doch die ultrareichen, lobbystarken und meinungsmächtigen Plattformen fahren bislang Schlitten mit den Regierungen. Die meisten von ihnen sitzen offiziell in Irland, dessen Datenschutzbehörde jüngst den BigBrotherAward für ihr desaströses Lebenswerk bekommen hat. Andere sind gar nicht erst greifbar, weil sie keine Adresse in der EU haben. Erst langsam wendet sich dieses Blatt, zuletzt mit dem Digital Services Act, den die EU auf den Weg gebracht hat.
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Apropos „privat“
Einen weiteren Aspekt ungewollter „privater“ Überwachung sollten wir nicht vergessen: Fehlgeleitete Personen, die andere stalken, mobben, doxxen, scammen oder groomen. Auch sie können einem das Leben zur Hölle machen. Es sind enttäuschte Liebhaber, neugierige Behördenmitarbeiter, zynische Menschenfeinde, frustrierte Incels, der Korruption Überführte – oder auch mal Kombinationen daraus. Auch sie bedienen sich oft der Vorarbeit, die Plattformen, Firmen und Behörden mit ihrer Datensammelei geleistet haben.
Oder sie nutzen die Gutgläubigkeit von Menschen aus, die es gewohnt sind, die Versprechen der Anbieter nicht mehr zu hinterfragen. Denn ein weiterer Faktor in diesem Spiel sind: wir selbst und unsere Gewöhnung an die Macht des Faktischen. Ob aus Bequemlichkeit oder um eines echten Mehrwertes willen – das Internet entwickelt sich oft schnell und in rechtlichen Grauzonen, mit denen wir für den Moment bereit sind zu leben.
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Wenn etwas unerwartetes passiert
Der Überfall auf die Ukraine hat uns kürzlich wieder gezeigt, wie schnell die harte Wirklichkeit altgediente Prinzipien wegwischen kann. Wir sind sprachlos und gelähmt, wenn etwas Unerwartetes, Großes oder Schreckliches passiert. Das diffuse Versprechen, eine Maßnahme helfe „gegen Kindesmissbrauch“ reicht offenbar für viele EU-Politiker aus, um für eine nie dagewesene Überwachungs-Infrastruktur in Europa zu stimmen.
Terror zielt darauf ab, die Welt von einen Tag auf den anderen zu verändern. In Krisen ziehen Politiker:innen aller Nationen lange Wunschlisten aus ihren Schubladen und prüfen, was unter dem moralischen Druck der Ereignisse plötzlich verhältnismäßig erscheint. Die US-Geheimdienste erlebten an 9/11 ein Desaster – und niemand hatte angesichts tausender toter Zivilisten die Besonnenheit und den Mut, sich für Augenmaß oder Grundrechte bei den nun getroffenen Maßnahmen einzusetzen. Dabei wäre das extrem angezeigt gewesen, wie wir heute wissen.
Vermutlich wäre es also eine Frage der Zeit, wann ein mühsam errungener, heute noch utopisch erscheinender Konsens über eine staatliche Überwachungsgesamtrechnung von einem einzigen Ereignis hinweggefegt würde. Darauf sollten wir gedanklich vorbereitet sein und unsere Agenda sortiert haben. Denn dass einmal eingeführte Überwachungsmaßnahmen nach einer Krise zurückgenommen werden, kommt in der Wirklichkeit nicht vor.
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Viele Hunde sind des Hasen Tod
Tatsächlich gibt es ja Verbrechen, die uns sprachlos machen. Bei denen wir sagen – okay, auf richterliche Anordnung darf man die Täter nach allen Regeln der Kunst überwachen. Das nennt sich dann Fahndung oder Prävention und die muss einer Verhältnismäßigkeit unterliegen. Deshalb zu erwarten, dass man private Informationen über uns bevorratet, für den Fall das Fahnder irgendwann darauf zugreifen möchten, verkehrt die Welt – ist aber nicht weit von unserer Wirklichkeit entfernt. Das heißt, salopp gesagt: eine Überwachung findet ja allerorten statt, sie ist aber „noch“ nicht staatlich, weil gerade nichts los ist, was die Aufmerksamkeit staatlicher Stellen rechtfertigen würde. Wie wir sehen, kann sich das extrem schnell ändern.
Die Überwachungslast im Zusammenwirken von nationalen Gesetzen zu bewerten, ist richtig. Aber für eine tatsächliche Summe aller Bausteine müsste man sich auch das Potenzial der privaten Datensammlungen ansehen – also was möglich wird, wenn dringlich begehrende staatliche Stellen auf privat erhobene Daten zugreifen. Das reicht von der Mautbrücke, über die Luca-App, über Gesichtserkennung bis zu verschlüsselten Chats.
Dazu kommen denkbare Auswertungen durch ausländische Geheimdienste, etwa im Fall von Zoom oder TikTok (CN), Kaspersky (RU) sowie einem Großteil US-amerikanischer Software. Schließlich ist bekannt, dass manche Geheimdienste Bürger:innen des eigenen Staates nicht beobachten, die Informationen aber im Ringtausch-Verfahren ebenso bekommen.
So gesehen käme eine ganzheitliche Betrachtung wohl zu dem Ergebnis, dass wir die diffuse rote Linie längst überschreiten. Verfassungsgerichte machen immer wieder solche Feststellungen und bringen Regierungen in Nöte. Und dennoch dürfen wir uns vergleichsweise glücklich schätzen, wenn wir eine Regierung haben, die sich dieses Themas ernsthaft annimmt. Wenn wir sie kritisch begleiten und nachdrücklich unsere Interessen einfordern, könnte sich die Legislative in Deutschland zu einem vergleichsweise fairen Player entwicklen.
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