49 bis 88 Prozent, das sind die Zahlen. Das ist der Anteil der Menschen, die intime, erotische Inhalte online miteinander tauschen. Die über ihre Messenger, Chats, Dating-Plattformen heiße Bilder verschicken oder sich intime Texte schreiben. So viel zum Thema „Ich habe nichts zu verbergen“. Überrascht uns das? Nicht wirklich. Ist es dumm? Ein Urteil darüber sollte man sich gut überlegen.

Als diverse Hollywood-Prominente (und sehr viele weniger prominente Personen) Opfer von Sexting-Leaks wurden, dachten viele: Selber Schuld! Wie kann man so dusselig sein, so sensible Inhalte ins Internet zu laden? (Auch wenn in vielen Fällen “das Internet” ihre privaten Clouds waren.) Und warum machen sie dieses „schmutzige“ Zeug überhaupt? Das Victim Blaming geht einher mit technischer Arroganz und moralischem Paternalismus. Als wäre es normal, gehackt zu werden, und wir müssten stets damit rechnen, unsere privatesten Angelegenheiten mit wem auch immer zu teilen.

Worum geht es im Leben? Warum sind wir eigentlich auf der Welt?

Neben Geburt und Tod, Bildung, Lebensunterhalt und Spaß ist es die Partnerwahl, die uns beschäftigt. Wir möchten unsere Chancen optimieren, testen, wie weit wir mit unseren Wünschen nach Liebe, Sex, Sicherheit und Zuwendung kommen. Bin ich hübsch genug? Wie reagiert er/sie auf meinen Körper und wie verhält sich das zu anderen Bereichen wie Humor, Esprit, Poesie, Alltag? Gerade für junge Menschen ist das von großer Bedeutung. Sogar dermaßen, dass wir genausogut zwei komplette Schuljahre überspringen könnten, weil wir sowieso mit uns selbst beschäftigt sind.

Sex ist ein Anarchist. Lust kommt, wann sie will und lässt uns verrücktes Zeug machen. Deshalb hasst der amerikanische Puritanismus den Sex so sehr, dass er meint, Hass und Gewalt schade Jugendlichen weniger als Pornografie. Die meisten Religionen lehren uns, diesen Drang zu unterdrücken, vor der Ehe keinen Sex zu haben, nicht zu masturbieren, überhaupt keinen Sex zu haben usw. Das setzt die Menschen noch mehr unter Druck – wie man an fundamentalistischen christlichen, hinduistischen oder islamischen Milieus erkennen kann. (Einige Experten meinen ja, dass dieses Schuldgefühl erst die Würze ist, das es interessant macht. Nun, dann viel Spaß, ihr Dussel.)

Das Leben ist zum Leben da. Und unsere Fruchtbarkeit ist es, die diesen Kreislauf des Lebens weiterführt.

Wir würden nicht existieren, wenn nicht ausnahmslos alle unsere Ahnen Sex miteinander gehabt hätten. Irgendwie mögen wir nicht daran denken, aber so ist es immer gewesen. Um genauer zu sein: Seit wir Eukaryoten sind und zumindest bis 1978, als die erste erfolgreiche In-vitro-Fertilisation stattfand.

Apropos Veränderung: Wir sind vielleicht die erste Generation, die von ihren Urenkelkindern beim Sex beobachtet werden kann. Denn wie es scheint, sammeln verschiedene Geheimdienste (zumindest die Chinesen, die Russen und die westlichen “5 Augen”) so ziemlich alles über jeden. Und da unsere voreingestellten Handy-Backups den Atlantik über kompromittierte Seekabel überqueren, unterliegen unsere intimsten Inhalte natürlich dieser umfassenden Überwachung. Jetzt, in der Zukunft, kann diese Fülle unerwünschter Zeitzeugnisse im Zeitalter des Quantencomputings und der ultradichten Datenspeicherung an die Öffentlichkeit dringen. Wenn du das nicht glaubst, betrachte es als Gedankenexperiment.

Warum, sollte meine private Pornografie jemanden interessieren?

Aus mindestens drei Gründen ist es für sie interessant: Erstens kann man damit jede beliebige Person erpressen, wenn dies eines Tages opportun werden sollte. Zweitens, weil sie es können. Alles ist interessant und warum sollten sie sich die Mühe machen, intime Dinge auszusparen. Der dritte Grund ist eher das private Interesse junger Männer, die sich in ihren IT-Jobs langweilen. Obwohl die vielleicht etwas wählerischer sind, was ihre Interessensgebiete angeht.

Es gibt unzählige Beispiele, die die Kraft des intimen Wissens beweisen: Die Nachricht „Ich habe dein Passwort xyz und habe dich beim Pornogucken gefilmt“ lässt manche Leute offensichtlich Bitcoins an Fremde zahlen, damit die das nicht veröffentlichen. Bill Clinton war der erste US-Präsident, dessen Sexleben fast zu seiner Amtsenthebung führte. 1984 wurde der hochrangige deutsche General Kiessling vom Amt suspendiert, weil jemand behauptete, ihn in einem Schwulen-Club gesehen zu haben. Homosexualität galt damals in Militärkreisen als Makel und damit als Erpressungspotenzial angesehen. 2012 musste CIA-Direktor Petraeus nach einer außerehelichen Affäre zurücktreten. Auch mutmaßliche Videos, die Donald Trump beim Sex mit Prostituierten in Moskau zeigen, werden als Potenzial gesehen, ihn zu erpressen. Und so weiter. In prüderen Gesellschaften als unserer wird der Effekt noch stärker sein.

Wie es ausschaut, werden wir also noch viel davon sehen. Es gehört nunmal zu unserem Verhalten. Wir mögen es einfach, Körper und Genitalien anzuschauen. Uns den begehrten Menschen zu zeigen und sie zu verführen. Um sie bei der Stange zu halten, wenn sie in der Ferne sind. Oder anderswo nach Inspiration zu suchen, während wir in monogamen Beziehungen leben. Heute finden wir das unnatürlich und peinlich. Weil wir uns nicht bewusst sind, dass wir nicht allein sind, dass sich die meisten unserer Mit-Primaten so verhalten. Schimpansen verzichten auf leckeres Essen, um Bilder von hübschen Affengenitalien zu sehen (überraschenderweise sind Porträts von ihren Anführern noch beliebter).

All das ist gar nicht so wertlos, wie Konservative uns glauben machen wollen.

Sex ist buchstäblich das, was die Welt bewegt. Und wenn wir das wissen, wird sich unsere Moral darauf einstellen. Wir werden Strategien entwickeln, vernünftiger damit umzugehen. Uns nicht von allgegenwärtiger Pornografie beeinträchtigen zu lassen, die immer nur ein paar Klicks entfernt ist. Den persönlichen erotischen Austausch als etwas zu schätzen, das über diesen kommerziellen Honeypot hinausgeht. Zu erkennen, dass unser Körper nicht perfekt ist, sondern kostbar. Er gehört uns, er ist was wir haben und kann uns Freude und Spaß bereiten.

Gerade deshalb braucht Intimität Respekt. Sie braucht einen sicheren Ort, einen unbeobachteten Raum. Und wenn wir heute im Cyberspace kommunizieren, lieben, streiten, leben, dann sollte dieser sicher sein. Eine Anpassung unserer Moral meint nicht, dass wir irgendjemandem etwas zeigen müssen. Als Whatsapp mit der Verschlüsselung begann, war David Cameron stinksauer. Wie kann es angehen, das eine Sphäre potenziell verfügbar ist, aber für das teure Massenüberwachungsprogramm des Staates technisch nicht zugänglich? Gegenfrage: Wenn wir uns im Wald unterhalten, sollte das dann auch vom Staat gehört werden? Unsere Schlafzimmer, unsere DNA, jeder unserer Herzschläge? Welchen Wert haben private Räume in unserer Hightech-Welt?

Meiner Meinung nach gibt es keine Rechtfertigung, jedes Detail unseres Lebens auszuspionieren, selbst wenn damit schreckliche terroristische Angriffe verhindert werden könnten (was nicht der Fall ist). Aus vielen guten Gründen. Sexting ist einer davon.

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