Vorwiegend schreibe ich über Digitalpolitik. Auch deshalb könnte ich dazu aufrufen, bei der Bundestagswahl die Grünen zu wählen. Mein wichtigster Grund ist aber ein anderer.

Kein Thema wie andere

Die Hälfte der Deutschen Bevölkerung ist heute über 46 Jahre alt. Und längst nicht alle Menschen haben bisher verstanden, dass die Klimakrise weit mehr als ein Thema von vielen ist. Sie ist existenziell und stellt das Erbe unserer Zivilisation für kommende Generationen infrage. Und Deutschland kann einen Unterschied machen, der weit über die Bedeutung unserer Klimagas-Emissionen hinausgeht. Wir sind das Land der Tüftler und wir sind reich wie kaum ein anderes Land. Deutsche haben der Welt so fantastische Dinge wie die allgemeinse Relativitätstheorie, den Computer oder das Tsunami-Warnsystem beschert. Die German Angst ist ein Frühwarnsystem, das im Fall der Klimakrise zwar angeschlagen hat, aber von der Fossil-Lobby zu lange in Schach gehalten wurde. Es ist nun bereits 5 nach 12. Höchste Zeit, dass wir Nägel mit Köpfen machen und wenigstens unsere Zusagen aus dem Pariser Abkommen tatsächlich einhalten. Wenn wir das nicht schaffen, wer soll es dann schaffen?
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Die SPD wird gemäß Umfragen dieses Land regieren, und wie immer wird sie zaudern, Kompromisse machen und dann doch nicht vorangehen. Ob bei Waffenexporten, Glyphosat, Lobbyregister, Bundestrojaner, Datenschutznovelle, §219a, NSU-Ausschuss – die SPD legt steil vor, fällt aber vor dem Tor schon nach leichtem Körperkontakt wehklagend um. In manchen Politikfeldern mag das vergeben werden, solange die SPD der Gesellschaft doch wenigstens ein Mindestmaß an sozialem Zusammenhalt bewahrt (siehe Mindestlohn). Doch in der Klimakrise sind solche Kompromisse unverzeihlich, in jedem Land. Sie sind entsetzlich teuer, dumm, haarsträubend, zutiefst unsympathisch, nicht zu verantworten. Gerade Konservative müssten auf eine sehr schnelle Dekarbonisierung drängen, damit unser Leben sich nicht radikal ändert.
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Digitalpolitik

Auch in einem anderen Feld – meinem Feld –, der Digitalpolitik, werden jetzt Weichen gestellt, die zumindest für das Überleben unserer liberalen Demokratien entscheidend sein werden. Was da schief gehen kann? In den USA haben wir es am 6. Januar gesehen. Die Überwachungstendenzen der Staaten und die Aufmerksamkeitsökonomie der Social Media mischen die Karten neu, diese Prozesse müssen entschlossen reguliert werden. Den Willen und die Kompetenz dazu haben zur Zeit drei Parteien: bürgerrechtlich orientierte Liberale (in der Tradition von Gerhart Baum), die Piraten und die Grünen. Die digitalpolitischen Thinktanks der anderen Parteien (D64 und C-Netz) verzweifeln am Abstimmungsverhalten ihrer Parteifreunde. Allein der Bildungsbereich. Allein die Vorratsdatenspeicherung. Allein die Netzneutralität. Allein der Netzausbau … Kurz: 16 Jahre Stillstand, Durchwurschteln, Vernachlässigung und Flugtaxi-Zitate sind ein eindrucksvolles Zeugnis der Inkompetenz und Ignoranz bei den Parteien der großen Koalition. Kompetente Netzpolitiker*innen wie Anna Christmann, Konstantin von Notz, Laura Sophie Dornheim setzen dem etwas entgegen.
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… und warum nicht nicht

Ein paar Argumente habe ich nun häufig gehört, warum man die Grünen auf keinen Fall wählen könne. Keines davon hat mich überzeugt.
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1. Aber Baerbock als Kanzlerin?!!?

Inzwischen dürfte klar sein: Annalena Baerbock wird nicht Bundeskanzlerin. Worum es geht, ist eine grüne Regierungsbeteiligung – und die halte ich für dringend notwendig. Nicht nur das Monsterthema Klimakrise, sondern auch viele andere Probleme müssen nach Jahren des Innovationsstaus nachhaltig angegangen werden. Verkehr, Energie, Bildung, Landwirtschaft, Digitalisierung, Sozialpolitik – überall müssen neue Lösungen her. Wer Grüne Ideen verstanden hat und im Prinzip gutheißt, sollte daher die Grünen wählen!
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2. Deutschland könne die Welt nicht allein retten

Ja. „Ich gehe nicht zur Wahl, meine einzelne Stimme ändert eh nicht viel.“ Stimmt – aber natürlich entscheiden am Ende ALLE Stimmen, um beim Klima ist es genauso. Deutschland muss sich an das Pariser Abkommen halten, wie die 194 anderen Staaten auch. Gerade für ärmere Länder ist das eine erhebliche Kraftanstrengung. Ökologisches Denken hält überall auf der Welt Einzug in Regierungshandeln. Sogar in den USA – dem Kohlenstoffjunkie der Welt – nimmt der Zug jetzt wieder Fahrt auf. Wer da vom „deutschen Wesen“ faselt, lebt noch irgendwo im letzten Jahrhndert.
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3. Die Grünen seien eine Verbotspartei

Hört doch auf. Wer etwas verändern will, muss Dinge neu regeln. Plastikstrohhalme werden verboten – Zeter und Mordio. Wir haben jetzt 4 Stück aus Edelstahl, so what!? Dass Zwangsehen, Gifteinleitungen, oder Tierquälerei „verboten“ sind, ist heute jedem selbstverständlich, musste aber gegen Widerstände eingeführt werden. Wenn die CDU die Anonymität im Internet verbieten will und Cannabis oder Informationen zur Abtreibung kriminalisiert, spricht niemand von einer Verbotspartei? Wenn wir aufhören, Umweltschäden der Gesellschaft aufzudrücken, dann müssen wir Regeln neu schreiben. Nicht alles kann man mit Anreizen lösen. Und die Grünen stehen wie keine andere Partei dafür, diese Umbrüche sozial (Energiegeld kommt zurück, Gering- und Mittelverdiener machen ein Plus) und wirklichkeitsnah zu lösen.
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4. Die Grünen seien früher besser gewesen

Die Grünen sind in den letzten 10 Jahren doppelt so viele geworden. Ideologisch verbiesterte Diskussionen wie in den 80ern habe ich in dieser Partei bisher nicht erlebt. In meiner LAG Netzpolitik konnte ich erleben, welche kompetenten und klugen Köpfe dabei sind, die sich auf ihrem Fachgebiet hervorragend auskennen. In anderen Ressorts, in die ich hineinschnuppern konnte, sieht es ähnlich aus. Anders als die nostalgische CDU, die verzagte SPD und die systemkritische Linke haben die Grünen konkrete, sofort anwendbare Konzepte zu bieten.
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5. Die Grünen seien eine Pro-Kriegs-Partei

Für mich bis heute nicht klar, ob beim Nato-Einsatz im Kosovo Joschka Fischer Recht hatte oder die Pazifisten bei den Grünen. Den Afghanistan-Einsatz wiederum hatte Gerhard Schröder seinerzeit auf infame Weise an eine Vertrauensabstimmung geknüpft – und damit die Disziplinierung innerhalb seiner Regierung aufs Äußerste ausgereizt. Einige Grüne haben trotzdem mit „Nein“ gestimmt und immer wieder haben sie eine Neuausrichtung und Exit-Strategie gefordert. Die Grünen sind ethischer und militärischen „Lösungen“ gegenüber kritischer eingestellt als die meisten anderen Parteien. Sie verfolgen keine chauvinistische „Wir sind wieder wer“-Politik, sind aber auch nicht naiv gutgläubig gegenüber Russland oder den USA.
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6. Multikulti sei gescheitert, die Grünen seien Schuld

Okay, hier mussten die Grünen viel dazulernen. Der gut gemeinte Impuls, Minderheiten in Schutz zu nehmen, weicht einer kritischeren Sicht. Was haben Fundamentalisten in Schäubeles Islamkonferenz verloren? Wie kann Integration endlich wirklich gelingen – und wo nicht? Und vor allem: Wie können wir Fluchtursachen effektiv bekämpfen? Das ist die eine Seite. Doch an der Misere trifft die Konservativen ebenso Schuld, die sich z.T. bis heute weigern, eine Integration von Migranten auch nur zuzulassen. So ist die Clankriminalität ein Phänomen, zu dem die Verweigerung von Bildung und legalen Erwerbsmöglichkeiten gegenüber „Langzeit-Geduldeten“ massiv beigetragen haben. Für unsere komplette Generation, ob grün oder konservativ, ist Migration ein Lebensthema, ob wir es wollen oder nicht. Totale Freizügigkeit geht nicht (und will auch fast niemand). Die Frage ist, gestalten wir das nachhaltig (wie Kanada), igeln wir uns ein (wie Ungarn) oder eiern wir dazwischen rum, weil wir die Aufgabe nicht verstehen wollen.
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7. Habeck wäre besser gewesen

Wie gesagt, wer Habeck will, darf weiter die Grünen wählen. Oder Özdemir, Göring-Eckardt, Künast oder Hofreiter oder Nouripour. Diese Politiker könnten in vielen Rollen ein Gewinn sein. Ich halte Baerbock für klüger als z.B. Gerhard Schröder. Sie vertritt ihr Programm ehrlicher und entschiedener als Merkel oder Scholz – von Laschet will ich gar nicht reden. Wer hatte Merkel oder Brandt in jungen Jahren zugetraut, was aus ihnen später wurde? Den Grünen fehlt oft die Abgebrühtheit und der Zynismus vieler Politiker. Aber ich würde allen potenziellen grünen Ministerinnen und Ministern eher zutrauen, mit Erdogan oder Putin ein ernstes Wort über Menschenrechte oder Nordstream 2 zu sprechen, als dem letzten Kanzler und der letzten Kanzlerin.
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Fazit

Ich habe in diesem Jahr zum ersten mal Wahlkampf gemacht – nicht sehr viel, aber mit Überzeugung. Ein letztes Mal: Ich bitte euch, bei dieser Wahl die Grünen zu wählen. Perfekt ist keine Partei, auch die Grünen nicht. Aber je stärker sie werden, desto fortschrittlicher und nachhaltiger können die anstehenden Veränderungen gestaltet werden.