Das Messer fehlt. Mein Hühnchen mit Reis und Gemüse esse ich nur mit Gabel und Löffel, oder nehme eben die Hand zur Hilfe. Und stelle fest, mit einem Löffel kann man überraschend gut schneiden. Messer bei Tisch sind auf den Philippinen angeblich verpönt, weil die spanischen Kolonialherren dem Volk einst den Besitz von Waffen verboten haben. Und so ein Besteckmesser, das muss man zugeben, ist im Falle eines Aufstandes natürlich ein gefährliches Utensil.

Ob die Geschichte nun stimmt, oder nicht – die Philippinen haben eine lange Geschichte der kolonialen Unmündigkeit. Chinesen, Araber, Spanier und US-Amerikaner haben das Land nacheinander vereinnahmt und geprägt. Die Japaner hielten die Inseln im zweiten Weltkrieg besetzt. Zur Rückeroberung wurden die Städte von der US-Airforce gnadenlos zerbombt. In der Innenstadt von Cebu stehen heute noch genau drei Wohnhäuser aus der Zeit vor dem Krieg. Wer immer dieses Land regierte, tat es rücksichtslos. Und nach Jahrzehnten dreister Wahlfälschungen und Korruption hat das Land nun seine Hoffnungen in einen Populisten vom Schlage Trump, Orbán, Bolsonaro gesetzt: Rodrigo Duterte.

Wie fühlt sich das Leben in so einem Land an, wie ist es, mit den Leuten dort zu sprechen? Berufliche und private Gründe haben mich auf die Philippinen gebracht, nachdem ich – mit Japan – bisher nur die reiche Seite Asiens kannte. Entsprechend hatte ich einen Heidenrespekt vor der Armut, den tropischen Krankheiten und anderen Gefahren von denen man so hört. Andererseits war ich neugierig auf die Filipinos, die ich als unglaublich hilfsbereite und freundliche Menschen kennengelernt hatte. Und auf das vielfältige Land, das stellenweise so wunderschön ist wie andernorts desolat.

 

„Maharlika“ heißt auf Tagalog so viel wie Würde, Weisheit

 

In „Maharlika“ möchte Duterte das Land gerne umbenennen, dem er seit zwei Jahren mit großer Wucht seinen Stempel aufdrückt. Würdig und weise kann man seine Amtsführung nicht gerade nennen. In seiner rüpelhaften Rücksichtslosigkeit wirkt er wie eine schillernde Mischung aus Mussolini, Atatürk und Chuck Norris. Er modernisiert, nimmt es mit der mächtigen Kirche auf wenn er sich für Empfängnisverhütung einsetzt oder für Schwule und Lesben. Dann wieder verbietet er Zeitungen und Webportale, macht Witze über Vergewaltigungen, sät Impfskepsis. Und vor allem lässt er Drogendealer systematisch ermorden – oder Menschen, die man dafür halten soll – und ist stolz darauf. Er spielt mit dem Feuer einer absoluten Macht. Und er erntet viel Zuspruch von seinen Landsleuten, die in ihm endlich einen effizienten Macher sehen.

Wer die Philippinen bereist, dem fällt auf, wo es überall an staatlicher Lenkung fehlt, oder besser: an gemeinwohlorientierter Infrastruktur. Öffentlichen Nahverkehr gibt es nicht, wer in Manila irgendwo hin will muss etliche Stunden Stop-and-go-Verkehr einplanen. Als billiges Vehikel dienen Jeepneys – zusammengeflickte, offene Kleinbusse in Privatbetrieb. 20 Leute teilen sich hier eine Verkehrsfläche, die in Europa ein bis zwei Personen einnehmen. Den Zwischenraum füllen Trycicles mit bis zu sieben Passagieren und dazwischen die Mopeds mit drei. An einer Stelle quält sich der Verkehr über eine Brücke, deren eine Hälfte eingebrochen ist, weil ein korrupter Bauleiter am Stahl gespart hat.

Die pittoresken bis verstörenden Bilder kennt man. Was die Fotos nicht zeigen, sind der Gestank, der Lärm und die Hitze. Unsere Empfindsamkeit in Sachen Umwelt wird auf eine harte Probe gestellt. Nicht nur Abgase schwängern die Luft, auch auf den Feldern werden Zuckerrohr-Reste verbrannt, in den Straßen Müll oder fettige Grillkohle. Eigentlich ist das ganze Land irgendwie verrußt. Auf Märkten riecht es nach ungekühltem Schweinefleisch und Fisch. Stehende Gewässer bilden eine blasige Haut, Autoreifen sind Brutstätten für Dengue-Mücken. Dazu der Sound von Hupen, von Maschinen, Klimaanlagen, Karaoke, Hunden und Hähnen – das alles begleitet einen überall, zu jeder Tages und Nachtzeit.

Bauvorschriften, Umweltauflagen, Feuerwehr, Medizinische Versorgung, Empfängnisverhütung, Stadtreinigung, all das ist schwierig in einem Land, in dem viele Menschen ihre Familie mit wenigen Euro am Tag durchbringen müssen. In dem ein Familienmitglied im Ausland mehr verdient als seine ganze Großfamilie zusammen. Die rasant wachsende Bevölkerung braucht bezahlte Arbeit und es gäbe überall zu tun. Der Staat beschäftigt in der Not Heerscharen von Sicherheitsleuten. Der Sextourismus ist (mit geschätzten 800.000 Sexarbeiter*innen) der drittgrößte Ertragssektor. Wer in einer schicken Mall Turnschuhe zu 50 Euro das Paar verkauft oder im Hotel arbeitet, der verdient ein mehrfaches von einem Lehrer- oder einem Bauarbeiter-Lohn.

 

Arbeitsmigration und Digitalisierung als Tore zur Welt

 

Immerhin, das Bildungswesen funktioniert gut. Englisch ist – wie in Indien – die Lingua Franca. Ein Schulmädchen in adretter Uniform witzelt: Wir sprechen auf den Philippinen doch schon 150 Sprachen, wie soll ich dazu noch Französisch lernen? Und wie in Indien ist eine flächendeckende Grundbildung ein gewichtiger Wirtschaftsfaktor. Von hier ziehen gefragte Seeleute, Hausmädchen und Pfleger ins reiche Ausland, vor allem in die USA und die arabische Welt. Hier sitzen die Callcenter, die Moderatoren der sozialen Netzwerke, die IT-Helfer des Westens. Auch einfache Menschen, die ihre Ortschaft kaum je verlassen, haben ein Bild von der Welt, und sei es durch indische Filme und amerikanische Serien.

Mir wird nochmal bewusst, wie wertvoll das oft wackelige Internet für die Menschen in den Emerging Countries ist: Als kostbare Quelle von Information, Kulturaustausch und Unterhaltung. Noch in der schmutzigsten Favela, direkt an der Müllhalde, sehe ich aufgeweckte Kinder mit Smartphones spielen. Ihre Mutter ernährt sechs Kinder damit, Kupfer aus alten Kabeln zu schneiden. 350 Peso bekommt sie für ein Kilo – etwa sechs Euro für eine Menge Arbeit.

Die französische NGO Enfants du Mekong leistet hier Hilfe zur Selbsthilfe. Wir werden herumgeführt, ich fühle mich täppisch wie Prince Charles im Armenhaus. Zehn Kitas wurden initiiert und werden unterstützt, damit die Kinder, deren Eltern im Müll arbeiten, etwas lernen und sich später in die Schule trauen. Es stinkt hier etwas weniger schlimm, die Kinder lachen, man lacht mit und möchte eigentlich heulen. Manche der Jugendlichen bekommen ein Stipendium für die Oberschule. Diese ist vom Staat gerade um zwei Jahre verlängert worden, was auch für normale Familien eine finanzielle Herausforderung ist.

Auch über heikle Themen wie Politik oder Religion nimmt hier niemand ein Blatt vor den Mund. Ein Taxifahrer erzählt mir – wir haben mehrere Stunden Zeit – freimütig seine Ansichten. Er hatte schon Fahrgäste aus Ministerien, dem Militär oder ranghohe Polizisten, die ihm erzählt haben, was abläuft. Über das letzte große kritische Medium Rappler und über die eigenen Netzwerke kann sich jeder auch über andere Sichtweisen informieren. Gewalt gegen Frauen ist z.B. ein großes öffentliches Thema, bei dem der Präsident in keinem günstigen Licht erscheint.

 

Keine Gehirnwäsche, sondern einfache, billige Propaganda

 

Von einer totalitären Meinungskontrolle chinesischen Zuschnitts sind die Philippinen also weit entfernt. Die Meinungshoheit zugunsten des Präsidenten speist sich stattdessen aus einer völlig unkritischen Verherrlichung in tausenden Fake-News. Sie preisen seine Wundertaten in einem Land, das traditionell an Wunder glaubt. So ist es – mehr noch als bei Trump – kaum vorstellbar, was Duterte tun könnte, um seine Anhänger zu verprellen. Vermutlich würden sie ihm einen eigenhändigen Mord an einem politischen Widersacher vor laufender Kamera durchgehen lassen. Damit zu drohen findet er jedenfalls witzig. Populismus brutal.

Als ich eine Sozialarbeiterin frage, ob die von ihr betreuten Armen wählen gehen, sagt sie: ja – nur wisse man ja nie, wem man vertrauen solle. Die Politiker versprechen erst viel und dann passiert nichts. Im Zweifel empfiehlt sie ihnen, auf die Wahlempfehlungen der Kirche zu hören. Dass die Menschen Duterte gut finden und – wichtiger noch – gewähren lassen, liegt wohl daran, dass die Aufgaben so gewaltig sind und Hoffnung dringend benötigt wird.

• Die Drogen hatten das Leben in den Armenvierteln lange fest im Griff, bekannte Drogenbosse zeigten sich schamlos öffentlich und verkehrten in besten Kreisen. Das hat sich geändert. Dafür platzen die Gefängnisse aus allen Nähten und wer seine Festnahme überlebt, kann von Glück sagen. Auch die Resozialisierungs-Programme laufen auf Hochtouren. Während in Deutschland AfD-Fans vergeblich auf eine schlechte Kriminalstatistik hoffen, ist hier ein echter und spürbarer Zuwachs an Sicherheit der Zweck, der Dutertes brachiale Mittel heiligt.

• Der Jahrhunderte alte Konflikt um die muslimische Minderheit auf der Südinsel Mindanao war im Fahrwasser des Syrienkriegs neu befeuert worden. Radikale Muslime schworen dem IS die treue und begannen einen bewaffneten Aufstand in Marawi. Mit dem neu gegründeten Kalifat machte Duterte relativ kurzen Prozess – nicht in wenigen Tagen, wie großspurig angekündigt, aber in einigen Monaten. Die Insel steht bis heute komplett unter Kriegsrecht, um ein erneutes Aufflammen der Kämpfe zu verhindern. Im Verhältnis zum „Drogenkrieg“ (zzt. bis zu 20.000 Tote) waren die Opferzahlen hier geringer (um 500).

• Oder, um ein ebendso radikales, aber weniger kontroverses Beispiel zu nennen: Die beliebte Ferieninsel Boracay (30.000 Einwohner) war so vermüllt, dass der Präsident sie 2018 per Erlass für mehrere Monate komplett schließen ließ. Nach einer monatelangen Reinigung der Insel haben Bewohner, Geschäftsleute und die partygewohnten Touristen begriffen, dass es auch anders geht. Jetzt ist der Strand wieder sichtbar und von Bars befreit, der Müll wird gesammelt und ab 22 Uhr ist Ruhe. Manche sehen das als Muster für einen nachhaltigen Tourismus auf den Philippinen.

So präsentiert sich Duterte immer wieder als Macher. Wie effektiv und erfolgreich seine Regierung wirklich ist, kann man zurzeit kaum objektiv beurteilen, so wie man es auch bei Hugo Chavez lange nicht konnte. Die Frage nach der Wirtschaft ist dabei in dem armen Land – noch vor Korruption, Drogen oder innerer Sicherheit – sicher die entscheidende.

 

Fazit: Ein schönes Land, mit echten Problemen

 

Aus touristischer Sicht sind die Philippinen ein bezauberndes, großenteils sicheres und sehr freundliches Land. Wenngleich die Probleme von seinen Bewohnern mit einem Lächeln überspielt werden, Fragen der persönlichen Sicherheit, Kriminalität, Korruption oder der öffentlichen Wohlfahrt spielen in der ganz persönlichen Lebensführung eine große, unmittelbar spürbare Rolle. Man muss zugestehen, dass hier ein echter Leidensdruck die Menschen antreibt, politische Wagnisse einzugehen.

Dass dabei die Pressefreiheit leidet und das Potenzial für Machtmissbrauch mit Händen zu greifen ist, ist unverzeihlich. Dass die Sorge darum ein Luxus ist, weil die Menschen einfach drängendere Probleme haben, mag ein Argument sein. Unsere First-Word-Attitude muss als Maßstab zumindest überprüft werden, ohne das Credo der universalen (d.h. für alle gleichermaßen gültigen) Menschenrechte zu verraten. Doch kann man den Mangel an demokratischer Kontrolle, Pluralismus und Transparenz auch genau so verstehen, wie die anderen genannten Miseren auch: als Mangel an gesunden, tragfähigen Strukturen, auf denen sich ein Wohlstand langfristig begründen könnte.

Wer sehr optimistisch ist, hofft, dass die Philippinen irgendwie an dieser despotischen Rosskur wachsen und danach in eine gesündere, offenere Gesellschaft übergehen. Die kulturelle Offenheit und Nähe zu den USA könnten das begünstigen. Die Philippinen sind ein buntes, oft chaotisches Land mit 106 Mio. vorwiegend jungen Menschen, die sich nicht vorschreiben lassen, was sie zu denken haben. Aber die Gefahr dauerhafter Schäden durch einen immer tyrannischeren Rüpel an der Macht ist erheblich.

Es ist wie mit der verrußten Luft: Wenn man darin lebt, kommt sie einem normal vor. Die Lebenserwartung ist allerdings eine andere.

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Videoempfehlung (16 min): Kurze und differenzierte Doku über die sozialen Verhältnisse und Hintergründe des War against drugs.

Die Alltagsbilder habe ich z.T. so erlebt, sie sind in ärmeren Vierteln durchaus Alltag und insofern keine Überdramatisierung. (Nur einen Schnitt finde ich ärgerlich, es wird von Toten gesprochen, die auf der Straße liegen gelassen werden, und man sieht eine schlafende Person.)