„Der Rundfunk wäre der denkbar größte Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, den Zuhörer in Beziehung zu setzen.“
Bertolt Brecht (gekürzt), 1932

Bevor ist das Internet gab – das muss man sich gelegentlich in Erinnerung rufen – waren Medien eine Einbahnstraße: Es gab einen Sender und einen Empfänger. Was aus der Druckpresse kam, wurde gelesen, was im Radio oder Fernsehen lief, wurde gehört und geschaut. Kommentare, z.B. Leserzuschriften, wurden nur vereinzelt veröffentlicht. Auch Zensur gab es jede Menge: Für regierungskritische Drucksachen konnte man in Deutschland zu Zeiten von Karl Marx ins Gefängnis kommen. Für Radiosender brauchte man ab 1919 eine Genehmigung. Und beim späteren Fernsehen waren die technischen Hürden so hoch, dass ohnehin kontrolliert war, was über den Äther ging.

Doch 70 Jahre vor Verbreitung des Internets gab es schon einmal eine Bewegung, die das Verhältnis von Sender und Empfänger auf den Kopf stellen wollte: die Arbeiterradio-Bewegung. Im kleinen Vereinen wurde im Hinterzimmern gebastelt und gelötet, von technikbegeisterten Frauen und – vor allem – Männern. Der Arbeiter-Radio-Bund Deutschlands zählte 1926 um die 10.000 Mitglieder. Aus Bausätzen von Elektroteilen konnte man sich vergleichsweise günstig ein eigenes Radio zusammenstellen und Nachrichten aus aller Welt empfangen.

Dass es in Europa lange Zeit nur staatliche Rundfunksender gab, war keine natürliche Gegebenheit.

Es war das Ergebnis einer staatlich gesteuerten Medienpolitik. Denn gleich zum Beginn des jungen Mediums (um 1925) wurden die Weichen gestellt, wer seine Hand auf der Programmgestaltung haben sollte.

In den USA gab es von vornherein nur lokale private Sender, die sich durch Werbung finanzierten. Einige wurden verboten, weil sie für dubiose Produkte warben oder politische Propaganda verbreiteten. Sie verlagerten ihren Betrieb in Grenznähe nach Mexiko – und bleiben so auf Sendung.

Im ordnungsfixierten Deutschland dagegen hatte man seine Lektion bereits früh gelernt. Als Soldatenräte 1919 in Berlin voreilig über Funk einen Sieg ihrer Revolution verkündet hatten, wurde dem bürgerlichen und rechten Lager klar: Der Rundfunk darf nicht in die Hände der Sozialisten kommen. Die Angst vor einer Radikalisierung der Bevölkerung war groß und durchaus berechtigt. So galt von Beginn an ein Proporz von 51% Staatseigentum an allen Sendern im Reich. Empfangsgeräte wurden anfangs noch als Militärtechnik angesehen und mussten – im Gegensatz zu den USA – immer lizensiert werden.

Die Verbreitung von angemeldeten Empfangsgeräten hatte sich in Deutschland zwischen 1924 und 1926 mehr als verhundertfacht (auf 1,2 Mio.). Mehr als die Hälfte der Geräte waren Marke Eigenbau, denn ein einfacher Detektorempfänger kostete im Laden den Gegenwert von 80 Facharbeiterstunden. Ähnlich heutigen Bewegungen wie Accessnow ging es also damals um demokratische Teilhabe.

Es war absehbar, dass der Rundfunk neben der Presse ein mächtiges Instrument der Willensbildung werden würde – was sich nur zehn Jahre später auf fatale Weise bewahrheitet hat.

Die Zeiten waren instabil, die Arbeiterbewegung längst zu einer mächtigen politischen Kraft geworden. Die Sowjetunion galt als erster Arbeiter- und Bauernstaat und vielen als glühendes Vorbild. Nach dem Weltkrieg konnten in Deutschland und Ungarn ausgerufene Räterepubliken nur mit Gewalt verhindert werden. Die Arbeiter hatten eine komplette Gegenkultur entwickelt, mit eigenem Sport, eigener Bildung, eigener Kultur und eigenen Idealen. 

„Der Rundfunk stellt ein wichtiges Volksbeeinflussungsmittel dar, und es kann deshalb dem Reich und den Ländern nicht verdacht werden, wenn sie eine solche Einrichtung nicht ohne besondere behördliche Kontrolle in den Händen von Privatleuten lassen wollen.“
Hans Bredow, Rundfunkkommissar, 1925

Ein späteres Eingeständnis zeigt, dass dieses Vorgehen nicht einem neutralen Rundfunk verpflichtet war, sondern der Durchsetzung einer eigenen politischen Agenda:

„Hätte man unter Verkennung der Volksstimmung den Rundfunk gleich am Anfang als Instrument der politischen Meinungsbildung angekündigt, so würde diese Absicht unbestreitbar auf einen starken Widerstand gestossen sein. (…) Deshalb musste man Schritt für Schritt vorgehen und durch Erfüllung des Verlangens nach guten unterhaltenden Darstellungen eine möglichst große Verbreitung zu erreichen suchen und abwarten (…), dass man ohne Schaden auch an die politische Arbeit herangehen konnte.“
Hans Bredow, „
Im Banne der Ätherwellen“, 1956

Neben der Teilhabe richtete sich das eigentliche Interesse der Arbeiter auf eigene Sendeinhalte. 

Sie wollten Einfluss auf die Programmgestaltung nehmen, Arbeiterkultur und politische Inhalte vertreten wissen, Gottesdienste aus dem Programm werfen. Das Vorgehen dabei war typisch für die Sozialistische Beweung in Deutschland: Die Sozialdemokraten baten um Einfluss auf bestehende Sender, die Kommunisten forderten einen eigenen Arbeitersender. Über diese Frage spaltete sich der Arbeiter-Radio-Bund schließlich. Seit 1929 propagierten die Kommunisten den neuen deutschsprachigen Sender von Radio Moskau. Anhänger der Direkten Aktion machten Schwarzfunk, was gefährlich war. 

„Wem gehört die Luft? … Der Äther ist Allgemeingut aller Menschen, Gemeingut aller Staaten.“
Arbeiter-Radio-Klub, Juni 1925

Wie viele illegale Sender es wann in Europa gegeben hat, lässt sich heute schwer rekonstruieren. Mit einem kleinen Sender konnte man nur wenige Kilometer weit empfangen werden. An einen dauerhaften Betrieb war nicht zu denken, da jede Minute die Gefahr einer Funkpeilung erhöhte.

Wie die Geschichte des Radios dann weiter ging, ist bekannt.

Die angeblich unpolitische, in Wahrheit bürgerlich-nationalistische deutsche Radiowesen spielte letztlich dem Faschismus in die Hände. Dies war auch deshalb möglich, weil die Anliegen der Arbeiterradiobewegung von ihren eigenen Genossen zehn Jahre lang zu wenig ernst vertreten wurden.
„Die ganze Frechheit der nationalen Kreise, die ganze Schlappheit der Opposition liegt schon im Faktum, dass das was diese Burschen ,nationale Gesinnung‘ nennen, als selbstverständlich vorausgesetzt wird.“
Kurt Tucholsky, „Der politische Rundfunk“, 1926

Die Nationalsozialisten nutzten das bereitete Feld auf meisterliche Weise für ihre Propaganda. Durch billige Empfangsgeräte, den sogenannten „Volksempfänger“ schränkten sie das Spektrum noch einmal zusätzlich ein: es konnte überhaupt nur noch ein Sender empfangen werden. Und dieser stand seit 1933 dem Reichspropagandaminister Joseph Göbbels für seine gnadenlose Hetze zur freien Verfügung. Das hören von „Feindsendern“ wurde unter Strafe gestellt und konnte einen im schlimmsten Fall ins Konzentrationslager bringen.

„Beispielsweise im Jahre 1939 habe ich im Kölner Hauptbahnhof als Anstreicher gearbeitet. Zur gleichen Zeit wurden dort die Soldaten für die Westfront verladen. Diese Gelegenheit wurde genutzt, in den Wartesälen Handzettel auszulegen, die die Soldaten über ihre wahre Funktion im Faschismus aufklären sollten.
Im gleichen Jahr wurde auch ein Schwarzsender gemeinsam von einem Anarcho-Syndikalisten und einem Kommunisten betrieben. Während der Sendungen fuhren sie mit einem kleinen Lieferwagen durch die Stadt und „kommentierten“ die Propagandareden der NSDAP im Radio. Leider war das nur für kurze Zeit möglich. Sie wurden mit Peilgeräten gesucht und die Angelegenheit wurde zu gefährlich. Schließlich mußten sie den Sender wegen der Hausdurchsuchungen auch noch zerlegen.“

Bericht eines Kölner Anarchisten (Quelle)

Die DDR war sich nicht zu blöde, die unrühmliche Tradition der Empfangsverbote fortzusetzen, wobei es für den Empfang von „Westfernsehen“ meist bei ungebetenen Besuchen und Ermahnungen blieb. Im Westen wurde aus den traumatischen Erfahrungen der Nazizeit heraus das Konzept des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit seinen Kontrollinstanzen entwickelt.

Doch auch hier gab es Piratensender, die zunächst verpönte Jugendkultur, seit den 68ern auch wieder politische Gegenöffentlichkeit zu Gehör brachten. Sie finden heute ihre Entsprechung in Webseiten und Podcasts. Dem Risiko, von der Polizei erstürmt zu werden, wie seinerzeit Radio Dreieckland, muss sich heute niemand mehr aussetzen.

 

Mit der Verbreitung des Internets haben sich die Verhältnisse gründlich verändert.

Die technische Ausgangslage und das politische Klima haben es zugelassen, dass in offenen Gesellschaften heute jeder Mensch mit einem Internetzugang jeglichen Inhalt erst einmal veröffentlichen kann. Die Frage nach Relevanz und Qualität wird durch Suchmaschinen und Redaktionen interpretiert. Die damit einhergehenden Fragen um Meinungsfreiheit, Urheberrecht, Vertrauenswürdigkeit und Desinformation beschäftigen uns bis heute. Die Debatten um die EU Copyright Directive zeigen uns, dass die Regulierung erst jetzt in vollem Gange ist.

Staatliche Versuche, das System mit Uploadfiltern und Generalschlüsseln (Backdoors) in den Griff zu bekommen, hatten bereits mehr Erfolg als uns lieb sein kann. Autoritären Staaten wie Russland oder China arbeiten mit Hochdruck daran, den freien Meinungsaustausch zu unterbinden, sich national abzuschotten und „ihr“ Internet unter zentrale staatliche Kontrolle zu bringen. Ein anschauliches Beispiel ist auch die Betitelung von Anhängern des ehemaligen Erdogan-Verbündeten Gülen in der Türkei als „Terroristen“, nachdem diesen ein Putsch in die Schuhe geschoben wurde. Und Terroristen, da sind sich fast alle einig, sollten ja das Internet nicht als ihre Plattform nutzen können.

Dieser Kulturkampf ist noch nicht entschieden.

Welche Lehren können wir aus der Geschichte ziehen?

• Politische Meinungshoheit ist – nicht nur in Diktaturen – ein wichtiger Schlüssel zur Herrschaftssicherung. Jeder Versuch, das Internet von Hatespeech, Fake News, Pornografie, Urheberrechtsverstößen etc. „rein“ zu halten, stellt ein potenzielles Instrument bereit, den politischen Gegner mundtot zu machen.

• Spätestens wenn es politisch brenzlig wird, wird eine führende politische Klasse Einfluss nehmen wollen auf Medieninhalte und deren Verbreitung. Dazu bedient sie sich der Mittel, die sich gerade anbieten.

• Technische Gegebenheiten wirken fort und beeinflussen Mentalitäten. Eine Zensur-Infrastruktur, die einmal installiert und akzeptiert ist, ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Die Deutschen, die sich einmal auf den Monokanal des Volksempfängers eingelassen hatte, hatte noch Jahrzehnte lang unter den mentalen Folgen zu leiden.

• Dezentral ist besser. Ein guter Schutz des Internets gegen Zensur ist seine flexible technische Struktur, sind Open-Source-Lösungen, sind Blockchains und ist sogar das Darknet. Die organische Vielfalt sollte man nicht einem – letztlich neurotischen – Sauberkeitsdenken opfern.

• Medien sind wichtig. Für ihre Freiheit muss man sich beizeiten und entschieden einsetzen.

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Hintergrund: 1990/91 hatte ich die Gelegenheit bei dem legendären Berliner Radio 100 mitzuarbeiten und eigene Sendungen zu gestalten. In dem Sender wurden viele Programmträume der Rundfunkpioniere verwirklicht. Von der Unterstützung der DDR-Opposition über schwul-lesbisches Radio bis hin zu nächtlichen Lesungen von Cyberpunk-Literatur war dort ein breites Spektrum von Strömungen vertreten. Die Schließung des Radios durch einen kommerziellen „Putsch“ (so empfanden wir es damals) hatte die Radiolandschaft ärmer gemacht. Die Einstufung der Hörerzahlen in den „nicht messbaren Bereich“ lässt mich bis heute an den offiziellen Erhebungen zweifeln – ich kannte damals niemanden, der nicht Radio 100 hörte.

Hörtipp: https://zwischenfaelle.radio-z.net/feature/arbeiterradiobewegung

Lesetipp:

Die Arbeiterrundfunkbewegung der Weimarer Republik, Joachim von Geisau im Radio-Kurier

• Helge Franz: „Rundfunk In Der Weimarer Republik Der Arbeiter Radio Bund“
ISBN : 9783640267569

Foto: Bundesarchiv B 145 Bild-P046285, CC-BY-SA