Manchmal gibt es Filme, die den Blick einer ganzen Generation auf ein Thema verändern. „An Inconvenient Truth“ war so ein Film. „Holocaust“. Oder vielleicht „We feed the world“. Die Netflix-Produktion „The Social Dilemma“ steht für mich in dieser Reihe – obwohl ich fürchte, dass der Film nicht ganz die breite Wirkung erreicht hat, die er verdient hätte. Denn immerhin geht es darin um ein großes Thema: Er beschreibt den gewaltigen Einfluss, den soziale Netzwerke derzeit auf uns, unser Denken und unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt ausüben.
Der Film ist nicht einmal herausragend gut gemacht. Unnötig schnelle Schnitte und ein gewollt dramatischer Sound schüren Emotionen und überwältigen das Publikum. Gespielte Szenen und eine düstere Voodoo-Metapher sollen die Manipulation aufzeigen, der ein gewöhnlicher Jugendlicher im Bann seines persönlichen Newsfeeds unterliegt.
Dabei hat der Film ein wichtiges aufklärerisches Anliegen: Er adressiert eine ganze Reihe von Zusammenhängen, die jedem mündigen Menschen heute klar sein müssen. Er vertieft diese Zusammenhänge und lässt einige der weltweit kompetentesten Kronzeugen zu Wort kommen: Die Masterminds der Algorithmen von Facebook, YouTube, Twitter & Co. Denn eine ganze Reihe dieser hochkarätigen Spezialisten aus dem Silicon Valley haben ihre glänzende Karriere infrage gestellt und das Lager gewechselt. Es sind Menschen, die ausgesorgt haben, die Abstand gesucht haben und nun einen ganz anderen, teils extrem besorgten Blick auf ihr eigenes Tun werfen.
Ein wichtiger Protagonist ist zum Beispiel Tristan Harris. Er war Design-Ethiker bei Google und verfasste damals ein alarmierendes Memorandum, das innerhalb des Konzerns eine beachtliche Welle machte, letztlich aber folgenlos blieb. Dieser Vorgang mag symptomatisch für die Mentalität in Silicon Valley sein: Man macht sich durchaus Gedanken, ist aber letztlich der Routine des höchst effizienten Geldverdienens verhaftet. So beeinflussen die Entscheidungen von vielleicht 40 jungen Designern das tägliche Leben von nicht weniger als der halben Menschheit.
„Man kennt die Tricks und fällt trotzdem darauf rein.“
Tim Kendall, ehem. Director of Monetization bei Facebook und CEO bei Pinterest
Zwei Szenarien haben uns allen in diesem Jahr gezeigt, wie greifbar unser durch Social Media vermittelter Realitätsverlust bereits ist: Die Wahl in den USA und die Corona-Pandemie. Dass in den USA ein Wahlbetrug in großem Stil stattgefunden habe, ist eine durchsichtige Falschbehauptung mit Ansage gewesen – und doch haben Millionen Menschen daran geglaubt (oder tun es immer noch) und sind Hunderttausende empört auf die Straße gezogen. Und auch die von Experten lange vorhergesagte zweite Welle in der Corona-Pandemie ist ein nachprüfbarer Fakt, den viele auf Teufel-komm-raus immer noch nicht wahrhaben wollen.
Das ist, als würde man sagen, „Nein, es gibt keine multiresistenten Keime in Krankenhäusern, alles gelogen!“, „Verkehrstote – ein riesiger Hoax!“ oder „Windräder verursachen den Klimawandel“. Und sogar von diesen Schlagzeilen könnte man sicherlich genug Menschen in den Social Media überzeugen, wenn man es darauf anlegen würde.
Den für mich entscheidenden Aspekt in dem Film formulierte Tristan Harris in einem Vortrag für sein Center for Humane Technology:
„Wir warten alle auf diesen Zeitpunkt, an dem Technologie die menschliche Kraft und Intelligenz schlagen werde. Wann wird sie die Singularität überschreiten, unsere Jobs übernehmen, schlauer sein als der Mensch? Aber da gibt es diesen viel früheren Punkt, an dem die Technologie die menschliche Schwäche übersteigt und überwältigt.“
Tristan Harris
In anderen Worten: Es braucht keine fabelhafte „starke KI“, sondern einfache selbstlernende Algorithmen, um heute schon unsere ganz persönliche Wahrnehmung der Welt durch Social Media zu beeinflussen. Der tröstliche Gedanke, man könne ja einer überhand nehmenden KI irgendwann den Stecker ziehen, ist bereits passé. Schon heute formieren sich in den USA schlagkräftige Milizen. Schon heute schlagen sich auf unseren Straßen Wutbürger, die sich in den sozialen Netzwerken polarisiert haben, die Köpfe ein. Pogrome wie die an den Rohingya sind natürlich keine Erfindung des Social-Media-Zeitalters. Aber wir hatten gehofft, solche Zustände durch Aufklärung und Information zu überwinden, statt ihnen neue Türen zu öffnen.
„Checkst du dein Smartphone morgens bevor du pinkelst oder während du pinkelst? Das sind die beiden einzigen Optionen.“
Tim Kendall, s.o.
Social Media gelten als „disruptiv“. Sie ändern die Spielregeln und bewirken tiefgreifenden Wandel. Auch mir ging zunächst das beliebte Argument durch den Kopf: „Der Buchdruck, das Radio, das Fernsehen – neue Medien haben bei ihrer Entstehung immer für Verwerfungen gesorgt. Das muss sich einfach einpendeln.“ Daran ist einiges richtig. Und doch haben wir es hier mit einer weitaus wandlungsfähigeren, nämlich sich in kurzen Zyklen selbstoptimierenden Art von Medien zu tun. Kaum verblasst Facebook ein wenig, erscheint das TikTok als noch interessanteres Angebot.
Unsere Auseinandersetzung mit diesen Medien (z.B. im besprochenen Film oder diesem Artikel) ist genau Teil dieses Einpendelns – einer gewissen Bewusstwerdung, Gegenwehr und Emanzipation. Doch das geschieht nicht von selbst und nur mit Mühe im nötigen Tempo. Und sobald man nicht aufpasst, werden die Gatekeeper der neuen Medien ihre Macht schamlos ausnutzen, mit Begeisterung und Chuzpe. Weil sie es können.
„Wenn du nicht für das Produkt bezahlst, dann bist du nicht der Kunde.
Andrew Lewis, in Referenz auf ähnliche Aussagen über TV-Werbung in den 1970er Jahren
Du bist du das Produkt, das verkauft wird.“
Welche Probleme werden konkret benannt?
— Und welche Antworten darauf sind im Gespräch?
Aus dem ziemlichen Durcheinander der behandelten Aspekte konnte ich zwölf Phänomene herausarbeiten, die als Grundprobleme oder -fragen im Umgang mit den Sozialen Netzwerken gelten können. Für manche gibt es Lösungen oder Antworten. Sie werden im Film nur am Rande angeschnitten, was schade ist. Was genau sind also die Probleme und welche Lösungsansätze gibt es?
1. Werbefinanzierung
„Wenn du nicht für das Produkt bezahlst, dann bist du das Produkt.“ Genauer gesagt, ist unsere Aufmerksamkeit das kostbare Gut, wie Jaron Lanier in dem Film ausführt. Noch genauer: die sehr exakt berechenbare Veränderung unseres Verhaltens in einem sehr spezifischen Punkt ist das Produkt, das an den Meistbietenden verkauft oder welcher Ideologie auch immer angedient werden kann.
— Die Lösung hierfür liegt auf der Hand, ist aber ein Kampf gegen Windmühlen: Die Überwindung der Gratis-Mentalität. Erst ganz langsam gelingt es der Presse, für ihre Arbeit überhaupt einen Obolus im Netz einzutreiben. Mit Spendenaufrufen werden die wichtigsten Errungenschaften des Online-Gemeinwohls nur knapp abgesichert. Datenkraken und Werbenetzwerke können dagegen für den Gegenwert nützlicher kleiner Gefälligkeiten aus dem Vollen schöpfen. Ein stärkeres Bewusstsein entsteht nur langsam, Datenschützer*innen werden als Fetischisten bezeichnet … Manche wollen offenbar erst aus Schaden klug werden.
2. Minutiöse Überwachung, Profilbildung und Manipulation
Die Netzwerke erfahren mehr über uns, als unsere besten Freunde – oder als wir selber. Wir werden dadurch berechenbar und manipulierbar. Das mag sich dumm genug anfühlen, wenn das Motiv dafür der Verkauf von Schokolade oder Turnschuhen ist. Doch was, wenn es irgendwann um handfestere Interessen geht: um Korruption, um Gesundheitspolitik oder Herrschaftsfragen? Wenn es z.B. darum geht, eine bestimmte Gruppe davon abzuhalten, an den Wahlen teilzunehmen oder den Ausgang von Wahlen anzuzweifeln?
— Die DSGVO bemüht sich, einer exzessiven Profilbildung Einhalt zu gebieten, insofern diese gegen das Interesse der Subjekte verstößt. Auch hier gilt: Was lassen wir uns abhandeln? Wem überlassen wir unsere Daten und was dürfen die beteiligten Stellen damit anfangen? Gesetzliche Hürden in Kombination mit einem entwickelten Bewusstsein können helfen, das schlimmste zu verhüten. Hier spielt es neben dem eigenen Verhalten also durchaus eine Rolle, welche Partei man wählt, welchen Forderungen man Nachdruck verleiht und welche Initiativen man fördert.
3. Desinformation auf einem neuen Level
Fake News, gezielte Falschnachrichten, verbreiten sich um ein Mehrfaches schneller als zutreffende Meldungen. Sie sind unterhaltsamer, aufregender und oft einfacher zu verstehen, als die Wirklichkeit. Mit ihnen können wir glänzen, auffallen, Recht behalten. So alt das Gerücht als Propaganda- und Kriegslist ist, nie war es so überzeugend, anschaulich und schnell wie heute.
— Aufklärung, Fact-Checking, Gegenrede. Es ist mühsam, aber es gibt kein anderes Gegengift, um arglosen oder verblendeten Menschen die Mechanismen vor Augen zu führen, denen sie auf den Leim gehen. Man wird dabei nie die letzten Flacherdler*innen und QAnon-Jünger erreichen. Doch gerade deshalb muss man früh ansetzen: Woran erkenne ich einen Hoax? Was sind seriöse Quellen? Wie lese ich eine Statistik? Was kann ich selbst herausfinden? Welche Weltanschauungen gibt es und zu welchen Verzerrungen neigen sie? Wann ist Selbstkritik angebracht und wann nicht? Was ist ein Deep-Fake usw.
4. Filterblasen: Realitätsverlust, Polarisierung, Ignoranz, Tribalismus, Radikalisierung
Man merkt auf Facebook oder Instagram nicht, wie der eigene Newsfeed sich an unserem individuellen Weltbild orientiert und es verstärkt. Das Ergebnis ist eine Verengung des Blickwinkels, der nicht selten zu Verschwörungsmythen und radikalen Positionen führt. Der gesellschaftliche Konsens bröckelt.
— Es gibt inzwischen ein Bewusstsein für diese Prozesse und zaghafte Versuche, sie zu entschärfen. Das Wort „Filterblase“ ist Allgemeingut geworden. Auch die eine oder andere kognitive Verzerrung wird in gehobenen Diskussionen immer mal wieder genannt. Doch den gut eingespielten Propagandamaschinerien hat das bisher wenig Abbruch getan. Die Zivilgesellschaft und die Plattformen müssen hier wissenschaftlich tätig werden und den Pluralismus, die Reibung an anderen Positionen, als zu fördernden Wert in ihre Algorithmen und ihre Gegenmodelle aufnehmen.
5. Suchtfaktor (Engagement, Bildschirmzeit als Ziel)
Die Mechanismen des Geschäftsmodells triggern des Belohnungssystem des menschlichen Gehirns. Dopamin wird bei jedem Betätigen des Endless Scroll aktiviert, wie bei einem Daddel-Automaten. Dies führt zu einer richtiggehenden Sucht nach News, Lols, Likes und Views, nach fortwährender Bestätigung durch die Peergroup. Bei einer vorgeprägten Suchtstruktur führt es leicht zu einer ernsthaften Abhängigkeit. Und auch Depressionen können schlicht eine Folge von zu wenig Bewegung, dem starren Tunnelblick und zu wenig Schlaf sein.
— Wer merkt, dass er hier gefangen ist, sollte unbedingt radikale Maßnahmen treffen, um wieder selbstbestimmt und frei von Social-Media-Zwängen zu leben. Auszeiten, Detox, Sonnenlicht und echte menschliche Begegnungen sind angesagt. Ein veränderter Blickwinkel, andere Beschäftigungen wie Musik, Sport, Kochen, etwas Reparieren oder basteln, neue Interessen. Dazu gehört es, den Entzug, die Langweile eine ganze Zeit lang auszuhalten.
6. Ablenkung
Fast allen Menschen fällt es schwer, den Verlockungen von personalisierten Empfehlungen zu widerstehen. Besonders Jugendlichen, aber auch Erwachsenen verlangt es oft mehr Disziplin ab, sich zu fokussieren, als sie haben. Längere Gespräche ohne Ablenkung durch eingehende Nachrichten werden zur Seltenheit. Lehrer*innen können ein Lied davon Singen, dass die Aufmerksamkeitsspanne ihrer Schüler*innen sich in der Dauer eines YouTube-Videos bemessen lässt.
— Eine Fokussierung auf das Hier-und-Jetzt in Reichweite der virtuellen Welt verlangt uns einiges Training ab. Aber es gibt keine Alternative: Wie lange sollen wir uns die Frechheit sonst noch bieten lassen, dass sich ständig jemand in unser Leben drängelt? Wer es sich leichter machen will, schaltet ab. Wer fortgeschritten ist, schaltet stumm und legt Zeiten für online-Kommunikation fest. Ungeteilte Aufmerksamkeit auf dem gegeben Kanal – im Real life oder online – sollte selbstverständlich werden und darf ggf. auch eingefordert werden.
7. Normierung, sinkendes Selbstwertgefühl, Mobbing
Social Media und professionelle Influencer bringen uns dazu, ein idealisiertes Bild von uns selbst zu verbreiten – und uns gleichzeitig selbst an den unrealistischen Idealen zu messen, denen wir dort begegnen. Denen zu entsprechen ist natürlich von vornherein aussichtslos. Abweichungen von der Norm werden überzeichnet und das Selbstwertgefühl wird an Äußerlichkeiten und oberflächlichen Lebenszielen festgemacht. Und wer erst einmal richtigem Mobbing ausgesetzt ist, kann sich dieser traumatischen Erfahrung nur schwerlich entziehen.
— Abhilfe liegt hier darin, Information über diese Phänomene verfügbar zu machen. Zu zeigen, wie vielen anderen es ähnlich geht. Hinter die Oberfläche zu schauen und der Wert eines Menschen anzuerkennen. Wertschätzung bewusst zu fördern und einzutrainieren. Die Verschiedenheit und Besonderheit zu kultivieren statt darunter zu leiden. Menschen, die von der Norm abweichen, können sich überregional in eigenen Communities und Selbsthilfe organisieren.
8. Emotionalisierung von Debatten und Kommunikation
Was einen belustigt oder empört, gewinnt Aufmerksamkeit – und Aufmerksamkeit ist in Sozialen Netzwerken die Währung. Für die Debattenkultur bedeutet das: Hassrede, Polarisierung, Spott, üble Nachrede finden in den Social Media reichlich Nahrung und jede Menge Widerhall. Ein Blick auf Twitter oder Facebook genügt oft, um zu sehen, welcher Aufreger es heute wieder ist, welche arme Sau gerade durchs Dorf getrieben wird. Die Sache bringt das nicht gerade voran. Jede Initiative gegen den Klimawandel, für neue Mobilitätslösungen, gegen Kindesmissbrauch, für Datenschutz in der Schule … wird stets begleitet von einer Kakophonie der Hater und aufgeregten Besserwisser.
— Davon abgesehen, dass jeder Mensch sich zügeln und zur Versachlichung der Debatte beitragen kann – hier stehen die Plattformen in der Pflicht, ihrem Kundenversprechen (Menschen zusammen zu bringen, Kommunikation zu fördern usw.) nachzukommen, indem sie Algorithmen entsprechend anpassen. Hiervon ist vermutlich mehr zu erwarten also von Content-Moderation oder automatischen Filtern. Wer die Qualität seines Produktes nicht beherrscht, muss Druck verspüren – von der Politik, von ihren Usern, von der Zivilgesellschaft. Was allerdings erst noch entstehen muss, ist das Qualitätsbewusstsein in dieser Hinsicht und eine erkennbare Messlatte, die angelegt werden kann. Bis es so weit ist, müssen Initiativen wie HateAid oder #IchBinHier den Betroffenen so gut es geht zur Seite stehen.
9. Algorithmen verstärken vorherrschende Urteile – und Vorurteile
Allzu menschlich ist die Tendenz, sich mit selbstlernenden Prozessen zufrieden zu geben, wenn sie scheinbar hinreichend das erwünschte Ergebnis liefern. Damit werden unsere oft zu kurz gedachten Normen in Algorithmen gegossen und absolut gesetzt. Eine zu hohes Vertrauen in die IT-Systeme führt dann dazu, dass z.B. diskriminierende Maßstäbe unhinterfragt Anwendung finden. In Social Media dienen Empfehlungs-Algorithmen der Erfüllung des Unternehmensziels: Der Bindung des Nutzer-Interesses. Damit einhergehen kann entsprechend die Schaffung einer komplett einseitigen Weltsicht des Nutzers, bis hin zu seiner extremen Radikalisierung. (Es gibt erfolgreiche Versuche, de-radikalisierende Empfehlungs-Algorithmen einzusetzen. Bisher sind es nur Versuche. Zu diesem Thema bald mehr.)
— Algorithmen transparent zu machen, zu analysieren und ggf. zu entschärfen ist eine wichtige Forderung verschiedener NGOs wie z.B. Algorithmwatch. Diese Forderung hat auch im derzeitigen Entwurf des Digital Services Act der EU ihren Niederschlag gefunden. Aber auch wir als Individuen sind frei, die Verzerrung zu erkennen und den technischen Systemen unser Misstrauen auszusprechen. Die Begründung „das hat der Computer so ausgegeben“ ist keine.
10. Monopolstellung weniger Netzwerke
Auch wenn es im Social-Media-Universum gelegentlich Überraschungserfolge von Außenseitern gibt (Snapchat, TikTok), haben sich die Big Five doch inzwischen eine dermaßen große Kriegskasse angeeignet, dass sie Konkurrenten leicht aufkaufen oder bekämpfen können. Auf der politischen Ebene üben sie einen so erheblichen Einfluss aus, dass man sich manchmal um das „Primat der Politik“ schon Sorgen machen muss. Ihr Einsatz für wohltätige Zwecke und das Allgemeinwohl sind fester Bestandteil ihrer US-amerikanisch geprägten Philosophie, in der es weniger um faire Marktregeln und Regulierung geht, als um das Image und das (eben mehr oder weniger) verantwortliche Handeln der Konzerne.
— Hier ist als Gegengewicht die europäische Regulierung der Märkte und Sicherung des fairen Wettbewerbs gefragt. Mit dem Entwurf zum Digital Services Act ist der EU-Kommission hier ein überraschend kraftvoller Auftakt geglückt. Wir sollten nicht zusehen, wie die anvisierten Regelungen Stück für Stück durch den Lobbyismus der Konzerne verwässert werden, sondern unsererseits Druck aufbauen, den Interessen der Zivilgesellschaft Rechnung zu tragen.
11. Die Mittlerstellung: normale Interaktionen werden Gegenstand eines Makler-Vorgangs
Es ist der feuchte Traum aller Infrastruktur-Unternehmen: ganz gewöhnliche Dinge wie Wasser, Luft oder ein Gespräch in eine bezahlte Dienstleistung zu verwandeln, und dies womöglich noch in einer Monopolstellung. Für Jemanden in Indien ist Facebook das Internet, andere telefonieren über WhatsApp oder nutzen Google für so ziemlich alles. Offene Protokolle wie E-Mail oder Telefonie geraten in die privaten Hände von Oligopolen.
— Eine wichtige Forderung ist die Verpflichtung der Plattformen auf quelloffene Standards und offene Schnittstellen. So dass man z.B. seine Freundin auf WhatsApp von einem beliebigen anderen Messenger aus adressieren kann. Nicht zuletzt die zuverlässige Ende-zu-Ende-Verschlüsselung muss Sache der User sein, die sich nicht auf halbseidene Versprechungen von Plattformen wie Facebook oder Zoom verlassen können.
12. Vereinsamung
Soziale Netzwerke binden uns möglichst lange an den Bildschirm – das entspricht ihrem Geschäftsmodell. Dies führt oft zu weniger Schlaf, mehr Müdigkeit und Unausgeglichenheit. Die Kontakte werden virtueller und physische Begegnungen seltener. Wenn Benachrichtigungen eingeschaltet sind, führt das oft zu weniger Aufmerksamkeit in Gesprächen. Andererseits: Über Soziale Netzwerke kann man leichter in Kontakt bleiben (z.B. bei Krankheit, Wohnortwechsel) und interessante neue Kontakte knüpfen (spezielle Interessen etc.).
— Hier ist die Lösung ein bewussterer und distanzierter Umgang mit Social Media. Echte Begegnungen müssen gesucht und gefördert werden. Das Thema sollte im Bekanntenkreis oder sogar auf in sozialen Netzwerken enttabuisiert und angesprochen werden. Physisch anwesenden Menschen sollte immer ungeteilte Aufmerksamkeit zugewendet werden. Unsere Erwartungen an uns und andere sollten dabei realistisch sein: Nobody is perfect – gerade unsere Fehler machen uns zu Menschen.
Die junge Generation wird besser werden …
„Wir sind [für sie] gewinnbringender, wenn wir auf einen Bildschirm Werbung anstarren, als wenn wir ein erfülltes Leben führen.“
Jaron Lanier, Autor und IT-Unternehmer
All die oben genannten 12 Problempunkte führen zu einer Überwältigung. Einer Überwältigung unseres Gehirns, unserer Eitelkeit oder Verführbarkeit. Und zu einer Überwältigung der Gesellschaft, die so schnell gar nicht lernen kann, die Mechanismen zu durchschauen, die sich stetig fortentwickeln und verfeinern. Sie beide, so scheint es, sind der Milliarden-Dollar-Technologie und den mächtigen selbstlernenden Algorithmen der Konzerne nicht gewachsen. Es ist Zeit, dass die Gewichte verschoben werden.
„The Social Dilemma“ wurde vorgehalten, eine Dystopie zu zeichnen, ohne Lösungsansätze vorzuschlagen. Eine ganze Reihe sehr konkreter Lösungen, wie man sein eigenes Verhalten ändern kann, werden allerdings im Abspann des Films genannt. Diese und weitere seien hier nochmal genannt. Eine weitere Auflistung findet sich hier: Take Control, oder hier: 10 Tipps gegen Handy-Sucht
- Benachrichtigungen und Töne ausschalten
- Apps löschen, die einen belasten
- Niemals Empfehlungen folgen (etwa auf YouTube)
- Aufmerksam werden und zurückweisen, wenn etwas offensichtlich extra darauf optimiert ist, deine Gefühle anzusprechen (ironischerweise muss man dem Film genau dies attestieren – was davon legitim ist, kann man ja selbst entscheiden)
- Fakten anhand neutraler Quellen überprüfen
- Für eine echte Breite und Vielfalt in den eigenen Informationsquellen sorgen
- Kinder so lange wie möglich von Social Media fern halten (als gutes Einstiegsalter wird 16 genannt!)
- Bildschirmzeit der Kinder reduzieren
- Zeitbudgets mit sich selbst aushandeln und beobachten
- Jugendliche in der Begegnung mit Social Media über deren Effekte aufklären (z.B. verzerrte Selbstwahrnehmung, Filterblasen, Normierung, Mobbing etc.), konkrete Beispiele zum Anlass nehmen
- Kein Geräte im Schlafzimmer
- Suchmaschinen nutzen, die dich nicht ausspähen
- Reduzierung, Detox, Abstinenz: einen Tag in der Woche offline gehen
- Beobachtung, Bewusstwerdung
- Lokalen und unabhängigen Journalismus unterstützen
In all diesen Dingen wird die jetzt junge Generation sehr viel besser werden (müssen), als wir fast alle es zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind, wenn Werte wie Selbstbestimmung, friedliches Miteinander und Aufklärung Bestand haben sollen. Ich denke, Impulse, wie sie von „The Social Dilemma“ ausgehen, werden an einer positiven Entwicklung wichtigen Anteil haben.
Zuletzt noch: Inwiefern beschreibt der Film eigentlich ein Dilemma – und nicht einfach eine Reihe von Problemen? Die Antworten, die wir oben finden, gehen immer von der Voraussetzung aus, dass wir die Sozialen Netzwerke nutzen wollen. Wenn wir der Empfehlung von Jaron Lanier folgen, unsere Social Media Accounts sofort zu löschen, dann haben wir kein Dilemma. Vielleicht sind wir dann in gewisser Hinsicht reicher geworden, aber ganz sicher auch etwas ärmer: an Anregungen, Informationen, Unterhaltung, Auseinandersetzung und freundschaftlichem Miteinander, das uns die Social Media trotz allem bieten. Sonst wären sie nicht so erfolgreich.
Wer auch nur zum Teil daran festhalten möchte, hat ein solches Dilemma – und muss es für sich und die anderen lösen.
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The Social Dilemma / Das Dilemma mit den sozialen Medien
USA, 2020
Regie von Jeff Orlowski
Drehbuch von Jeff Orlowski, Davis Coombe und Vickie Curtis
In Deutschland veröffentlicht am 9. September 2020 auf Netflix
Weblink zu Netflix (kostenpflichtig)