Unsere Gesellschaft ist wie das Glasfasernetz: Eine Baustelle, die niemals fertig wird, weil sie ständig von der Entwicklung überholt wird. Wie gehen verschiedene Milieus mit der beschleunigten Veränderung um? Und warum begegnen sie sich dabei so feindlich? Aus ganz subjektiven Beobachtungen heraus wage ich ein paar steile Thesen.

Innovation lässt sich nicht so einfach messen. Aber wenn ich eine Kurve zeichnen sollte, wie sich die Menschheit technisch in den letzten zehntausend Jahren entwickelt hat, würde sie etwa so aussehen:

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Und zufällig ist dies genau die ansteigende Kurve der Weltbevölkerung*. Sie wird ihren Peak vermutlich in den kommenden 150 Jahren bei 10 bis 13 Milliarden Menschen finden. Ob die technische Entwicklung sich dann auch irgendwann einmal entschleunigt, wird man ja sehen.

Derweil verdauen wir heute gerade noch die letzten Mega- und Meta-Trends. Zum Beispiel den immer reibungsloseren weltweiten Informationsaustausch. Oder die stetige Verdoppelung der Rechenleistung gemäß Moore’s Law – einer der wirkmächtigtsen Entwicklungen der Gegenwart. Auch diese steile Kurve sollte wohl irgendwann einmal abflachen, könnte man meinen.

Aber stattdessen wird uns hier vermutlich noch ein wortwörtlicher Quantensprung bevorstehen, wenn Quantencomputer für praktische Anwendungen ausgereift sind. Das wäre dann, in Verbindung mit den entsprechenden Daten, quasi die Weltherrschaft für die Westentasche von – Zutreffendes bitte ankreuzen – [  ] Google, [  ] den Chinesen, [  ] den Five Eyes.

Dabei ist die Digitalisierung nur ein Faktor des Wandels unter weiteren. Dazu kommen die Globalisierung, Entwicklungen in Bio- und Nanotechnik, Fortschritte der Medizin, Erkenntnisse der Hirnforschung, der Astronomie usw. Sprich, die Herausforderungen an unsere Lebensgewohnheiten, Konventionen und Ethik sind mannigfaltig. Wie sollen wir Menschen da mental mithalten?

 

Seitan mit Pilzen und Pflaumen zu Weihnachten

 

Aus gutem evolutionärem Grund ist der Mensch ein Tier, das auf  Traditionen hält. Es fällt uns ja schon schwer, innerhalb einer Generation neue Kochrezepte für eine leckere vegetarische Ernährung zu akzeptieren. Oder zu verstehen, welchen immensen Wert funktionierende Ökosysteme für uns haben. Das Maß, mit dem wir das Wohlergehen unserer Nationen messen, das BIP, folgt einer seit längerem überholten Logik aus dem Zeitalter der Schwerindustrie.

So gehen wir für zwei, dreitausend Euro im Monat oft sinnentleerten Beschäftigungen nach, während anderswo händeringend jede Hilfe gebraucht würde. Und machen uns Sorgen darum, dass sich dies bald verändern könnte. Der Satz „Europa steht vor einem Umbruch“ ist stark untertrieben. Europa und die Welt steht mitten in einem Umbruch – der auf absehbare Zeit permanent ist.

In meinem Vortrag „Immer alles neu denken – Metalitätswandel in der Arbeitswelt?“ beim Stuttgarter Zukunftssymposium habe ich mir vier Stereotypen oder Milieus darauf hin angesehen, wie sie mit den Veränderungen umgehen. Aufschlussreich fand ich dies besonders in Bezug auf Angst, Macht, Empathie und Eigenmotivation.

Grob zusammenfassend habe ich diese Gruppen genannt:
• Arbeiter und Gewerkschaften
• die agilen Young Urban Professionals
• die aggressiv Identitären
• konservative Wirtschaftsliberale

Spoiler: Die letzteren halte ich für besonders relevant für die Frage, wie unsere Geschichte weiter gehen wird.

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Die erste Gruppe: Arbeiter und Gewerkschaften

 

Bei Arbeitnehmern löst der Wandel verständliche Sorge um ihren Lebensstandard aus. Wird mein Arbeitsplatz wegrationalisiert? Was ist mein Wert als Mensch, wenn eine KI besser ist als ich? Fragt mich irgend jemand, ob eine Neuerung sinnvoll ist oder was sie für mich bedeutet? Bei allem Wohlstand: Unsere Marktwirtschaft ist weniger sozial geworden, seit die Konkurrenz der Systeme sich entschieden hat. Der Weg nach unten ist nicht weit, wenn man es nicht so dicke hat und der Sozialstaat eher im Abbau begriffen ist. Die Angst ist also berechtigt.

Die Gewerkschaften laufen der Entwicklung hinterher, die Sozialdemokratie ist orientierungslos. Wie soll man einem Elon Musk mit Willy Brandt kommen? Man bemüht sich um Gestaltung durch Eindämmung, ist dabei aber mental träge. So vertreten die Gewerkschaften vor allem die Interessen der traditionellen Arbeitnehmer, während prekär Beschäftigte, Arbeitslose, Freiberufler und Selbstständige aus ihrem Raster fallen. So verlieren die sie den Anschluss an ganze Milieus – und Macht.

Neue Strukturen emanzipatorischer Bewegungen (etwa die Open-Source-Bewegung, nachhaltige Initiativen wie Cradle2Cradle) werden von ihnen nicht einmal als solche erkannt. Das ist nicht witzig, darüber muss man sich nicht mokieren – der Machtverlust dieses einst mitbestimmenden Milieus ist ein Drama. Den Kampf um digitale Mitbestimmung drohen die Arbeitnehmer zu verlieren, weil ihre Forderungen sich vor allem in Prozent Lohnerhöhung ausdrücken und weil sie viel zu wenig Berührung mit den Treibern der Entwicklung haben. Denn diese kommen aus einer anderen Gruppe:

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Die zweite Gruppe: agile „Young Urban Professionals“

 

Für eine Elite ist diese Gruppe viel zu groß. Das Schmähwort „Yuppie“ nehme ich hier einmal beim ursprünglichen Wortsinn: Die junge, urbane Arbeitsgesellschaft funktioniert nach komplett anderen Regeln als die traditionelle Wirtschaft. Auch hier bestimmt das Sein das Bewusstsein, aber unter anderen Vorzeichen. Während klassische Arbeitnehmer*innen um 18 Uhr sagen: „Endlich Feierabend!“ stöhnt diese Kaste: „OMG, schon 18 Uhr!“. Weil man das Projekt eigentlich lieber schon weiter vorangebracht hätte.

Über die Strategie „Stell einen Obstkorb und einen Tischkicker hin, dann bleiben die Leute gern länger“ rümpft jeder Gewerkschafter die Nase, aber so ticken diese Menschen. Sie sind Innovatoren, denken in der Gestaltung von Prozessen und erschaffen ihre Konventionen selbst. Sie gehen ins Risiko, Ihre Welt ist flüssig, flexibel und mobil. Sie erkennen Marktbedürfnisse schnell und antworten darauf mit Lösungen, die nicht perfekt sind, sondern einer Lernkurve folgen: Fail early, learn fast. Arbeitsziele werden agil den ständig sich ändernden Anforderungen angepasst.

Klingt das nach einer Lobeshymne? Es soll zumindest klar machen: Hier ist eine Mentalität die grundsätzlich anders funktioniert, und zwar wesentlich unsicherer, aber auch angstfreier. Es geht diesen Leuten zumeist um die Sache an der sie arbeiten. Sie teilen Ressourcen wie Autorenschaft, sie sind eher pragmatisch als perfektionistisch, und wenn ihnen der Kragen platzt, gehen sie und fangen etwas neues an.

Dass das Yuppietum in vieler Hinsicht auch problematisch ist, erfährt man in den Großstädten am eigenen Leibe. Dort treibt das  moderne Nomadentum die Mietpreise hoch. Bindungslosigkeit und Fernbeziehungen sind ein anderer Preis, den diese Generation zahlt. Und nicht wenige lügen sich in die Tasche, wenn all die Selbstoptimierung und Selbstausbeutung sie noch immer nicht zum Ziel geführt hat.

 

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Die dritte Gruppe: die aggressiv Identitären

 

Nur kurz abgerissen sei hier das absolute Gegenteil der aufgeklärten, agilen Großstädter: die volkstümlich Reaktionären, die Rechtspopulisten und strammen Nationalisten. Diese Strömung ist verunsichert durch den Wandel, der oft stark vereinfacht und wenig verstanden wird. Ihre Weltsicht reagiert allergisch auf Komplexität und Diversität.

Ihre Antwort ist der Ruf nach Sicherheit und die Flucht in eine idealisierte Vergangenheit oder esoterische Mythen. Diese aggressive Klein- und Scheinbürgerlichkeit bietet keine Lösungen an, sondern übt sich in Chauvinismus: Wir sind die Guten und das Gewohnte ist das Maß aller Dinge. Der humanistische Wertekompass gerät zunehmend aus dem Blick. Nebenbei ist man wirtschaftsfreundlich bis zur blanken Korruption.

Mit dieser ideologischen Sackgasse müssen wir uns befassen, aber in Bezug auf die Bewältigung von Zukunftsfragen haben wir ihr nichts zu erwarten.

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Die vierte Gruppe: konservativ Wirtschaftsliberale

Aus zwei Gründen halte die die Entwicklung dieser Gruppe für besonders maßgeblich:

  • Sie stellen den einflussreichen Mainstream in unserer Gesellschaft dar. Und zwar derart, dass wir diesen kaum mehr wahrnehmen, weil er den Rahmen setzt, in dem wir uns täglich bewegen.
  • Und zum anderen steht diese Gruppe vor einem Paradigmenwechsel, bei dem sich entscheiden wird, in welche Richtung unsere Gesellschaft insgesamt geht: In die flüssig-agile Mentalität oder in das verengte Heimatgefühl rechter Ideologen.

Wenn man sich die digitalpolitischen Debatten der vergangenen 50 Jahre anschaut (hier mein Positionen-Wiki dazu), dann wird auf  Seiten der konservativ-wirtschaftsliberalen ein Muster deutlich: Veränderungen werden als Chancen gesehen, sobald sie als Geschäftsmodell verstanden werden, und als Risiken, wenn sie bestehende Geschäft bedrohen oder tradierte Werte infrage stellen. Anders gesagt: Diese Kaste ist angst- und machtgesteuert. Dabei sind diese Konservativen oft zu langsam, zu reaktiv, es geht ihnen spürbar nicht um die Sache, sondern eher darum, den Anschluss nicht zu verlieren.

Sie tüfteln an perfekten Lösungen und da entwickeln sie auch Leidenschaft. Aber für die so entscheidende Anwenderperspektive fehlt es ihnen an Empathie. Ihre Leitmotive sind Sicherheit, Besitz, Stand, eine Position in der Hierarchie. Die letzte Antwort auf die Frage „Warum machen wir das?“ ist fast immer das Geld, der Wohlstand. „Willst Du den Rest deines Lebens Zuckerwasser verkaufen oder willst Du die Welt verändern?“ lautete eine berühmte Frage von Steve Jobs, mit der er John Sculley bei Pepsi abwarb. Dieser erwies sich als tüchtiger Manager, aber den Kern der heute so wertvollen Marke musste Jobs später fortentwickeln.

Die schnöde „konservative“ Lobby-Politik von Leuten wie Oettinger, Dobrindt, Scheuer & Co. macht dabei sehr viel mehr kaputt, als zuerst wahrnehmbar ist. Kohls im Effekt zum Teil feindliche Übernahme der DDR, Thatchers Deregulierung der Finanzmärkte und destruktive Europapolitik rächen sich noch heute, Jahrzehnte später.

 

Ein paar Beispiele

 

Das Weltbild dieser Konservativen lässt sich an einzelnen Themen gut durchdeklinieren. Durch die ihre Brille betrachtet bedeutet z. B.

  • Datenschutz
    Einerseits ein Hemmschuh, weil umständlich und die Kontrolle einschränkend. Andererseits dient er der Wahrung der eignen Geheimnisse und als Verkaufsargument. Auswirkungen auf die Menschen und die Gesellschaft sind erstmal zweit- oder drittrangig.
  • Netzneutralität
    Hier rote Linien zu überschreiten ist kein Problem, wenn man für sich einen Vorteil rausholen kann. Dass dafür grundlegende zivilgesellschaftlcihe Werte geschreddert werden, ist erstmal Wurst. Die verbale Argumentation passt sich dem an.
  • Urheberrecht
    Das reformierte europäische Urheberrecht hat sich auf Betreiben der EVP und gegen massiven Widerstand der Nutzer und vieler Urheber an den Wünschen der Verwerter orientiert, die ihre alten Geschäftsmodelle wahren wollen. Auch daran werden wir noch lange zu knabbern haben.
  • Verteilung
    Die Verteilung von Gewinnen aus der immer effizienteren Wertschöpfung wird gemäß des überkommenen „Leistungsträger“-Gedankens organisiert – als wären die gutbezahlten Führungskräfte immer die unverzichtbaren Kompetenzträger und Cash-Cow des Betriebs. Eine Lockerung dieser Idee wäre gerade in Deutschland, wo es vergleichsweise wenig Chancengleichheit gibt, angebracht.
  • Migration
    Auch dieses riesige Dauerthema wird nicht (wie z.B. in Kanada) strategisch durchdacht und gestaltet, sondern irgendwie entlang parteitaktischem Kalkül hingewurstet und in möglichst schöne Worte verpackt. Das ist nicht nur wenig verantwortlich gegenüber den betroffenen Migranten und der restlichen Bevölkerung, sondern öffnet auch eine ideologische Flanke, in die Rechtspopulisten mit wehenden Fahnen einreiten.

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Entscheidend wird der Mentalitätswechsel bei den Konservativen

 

In meinem Plädoyer soll es mir nicht um Parteien oder politische Farben gehen, es geht um Mentalitäten. Und um vergebene Chancen.

Ich denke, die Konservativen in Deutschland und Europa sollten sich lockerer machen. Die steifen Anzüge und Kostüme sind ein Symbol für körperlich spürbare Entfremdung. Sie sollten neuen Ideen gegenüber offener sein und mehr das tun, was sie wirklich für richtig halten und was ihnen Spaß macht. Z.B. statt auf das Konjunkturbarometer zu starren die gemeinsame Lebensqualität zum Maßstab machen. Dazu gehört Mitbestimmung, Flexibilisierung, Elternzeit auch für Väter, Fortbildung aus eigenem Antrieb (notfalls in der Freizeit), die Beschäftigung mit neuen Konzepten nicht aus Angst, sondern aus Lust auf Zukunft.

Ein paar gedankliche Ansätze dazu seien hier genannt:

• Die taiwanesische Ministerin für Digitalisierung, Audrey Tang, setzt sich ein für Open Source Software, hohe Regierungstransparenz, Bürgerbeteiligung und Partzipation als Menschenrecht, Offenheit, Pluralismus, Lokales Engagement, die Berücksichtigung von Emotionen in der politischen Agenda. Sie initiiert den „Presidential Hackathon“, in der gemennützige Software vorgeschlagen und die besten Lösungen entwickelt werden.

• Julia Reda war in der letzten Legislaturperiode EU-Abgeordnete der Piraten. Sie hat federführend Position zum Artikel 13 / 17 bezogen und ein Modell nach dem Vorbild des US-amerikanischen Fair use vorgeschlagen. Sie hat nicht nur Leute wie Rezo, sondern eine ganze Generation inspiriert und ein Stück weit politisiert.

Der kostenlose öffentlicher Nahverkehr oder das Bedingungslose Grundeinkommen sind Ideen, die bei Konservativen emotional nicht ankommen, weil sie gegen deren Leistungsgedanken verstoßen. Dass unsere Gesellschaft einen riesigen Überschuss an völlig unnützen Dingen leistet und auf mittlere Sicht die Verteilungsfrage ganz neu (und sozial!) gelöst werden muss, ist hier noch nicht angekommen.

• Soziale Kompetenzen, Kommunikation und eigenständiges Lernen ist, was unsere Kinder (und wir!) lernen müssen. Wir brauchen nicht einfach MINT, sondern Begeisterung für MINT. Miteinander gemeinsame Ziele entwickeln und Raum lassen für Individualismus, Gleitzeit, Pausen, Sport, Familie – den Wert des Menschen.

Meine Idee für eine solche Versöhnung zwischen beiden dominanten Gruppen, den Konservativen und den Agilen, unter Mitnahme der anderen, eher machtlosen Gruppen, wäre ein besseres (Arbeits-)Leben für alle, etwa nach skandinavischem Vorbild:

  • Individualistisch: das Eigeninteresse ist okay, Anreize sind Teil der zu gestaltenden Spielregeln
  • Politisch: man behält das Gemeinwohl im Blick und sorgt für sozialen Ausgleich
  • Offen für unkonventionelle Lösungen
  • Ideen werden durchdacht, gemeinsam beschlossen und entschieden umgesetzt
  • Gemütlich (hygge), aber nicht von gestern
  • Man ist per Du miteinander (fika), der Mensch zählt.

Mit einem solchen veränderten Bewusstsein liest sich der Satz „Ständig alles neu denken“ weniger gequält als neugierig und der Zukunft zugewandt. Eine solche Mentalität brauchen wir dringend an den entscheidenden Stellen. Und nur sie wird die neue Technik in einem Sinne einsetzen, dass sie für die Menschen und mit den Menschen arbeitet – und nicht gegen sie.

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Am Dagen H, dem 3. September 1967 stellte Schweden – entgegen einer Volksabstimmung und nach jahrelanger Vorbereitung – seinen Straßenverkehr von Links- auf Rechtsverkehr um. Dieser Kraftakt wurde von allen gemeinsam mit Disziplin und Humor durchgeführt. Drei Tage lang wurde überall mit Tempo 30 gefahren. Kein einziger Unfall wurde bekannt.

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