So wie Schuhe mit Absätzen den Gang und die ganze Körperhaltung verändern, so formen soziale Netzwerke unser Denken. Ich hatte die seltene Chance, etwas ganz alltägliches zum ersten mal zu tun, und genau zu beobachten, was es mit mir macht: Twittern. Ein subjektiver Bericht.

Like a bird on a wire
like a drunk in a midnight choir
I have tried in my way
to be free

Leonard Cohen

Fallschirmspringen. Yoga. Snowboard – wann hat man das schon, etwas zum ersten mal zu tun. Als ich beschloss, dass der Spatzendraht Twitter das richtige Soziale Netzwerk für diesen Blog sei (und nicht die Klatschbase Facebook), betrat ich persönliches #Neuland. Meinen fünf Jahre alten Account hatte ich bisher nur zum sporadischen Lesen verwendet und ansonsten einfach mal die Klappe gehalten.

Anders als viele habe ich mich nie beschwert, auf Facebook zugemüllt zu werden. Vielleicht liegt es daran, dass ich wirklich nette, kluge und interessante Freunde habe. Oder daran, dass ich immer neugierig bin und mich königlich über kleine Dinge freuen kann. Ein Beitrag, der ich mich heute noch begeistert, ist das Video Thai Space Program, von einem fantastischen Raketenkarusell mit 10 m Durchmesser, das sich bei einem Dorffest in Thailand mit großem Hallo und noch größerer Rauchentwicklug hunderte Meter hoch in den Himmel schraubt. Und dann mit einem Fallschirm heruntersegelt! Was für eine erhabene, sinnfrei-sinnstiftende, spaßige Kulturleistung!

Sowas teilt man doch gern. Mein Essen, Bahnerlebnisse oder Familienmomente mit „allen“ Friends zu teilen, hat mich weniger interessiert. Beruflich muss man halt wissen, wie die Netzwerke funktionieren, und für meine Band etwas Promotion zu machen war immer Ehrensache. Doch jetzt kommt etwas ganz anderes.

Plötzlich war mir etwas wichtig (dieser Blog) und ich begann, auf Twitter Ambitionen zu entwickeln. Es ist überraschend schwierig, trotz (oder gerade wegen) „wichtiger“ Inhalte, Follower zu finden. Reichweite aufzubauen, in einer interessierten Gruppe, zu einem gut eingrenzbaren Thema. Also fängt man an zu testen: Was stößt auf Interesse, was wird geliked, was geteilt? Und schon beginnt der Algorithmus mich zu formen. Oder ist es die menschliche Psyche im Korsett der Maschine? Das kollektive Unbewusste, die Schwarmintelligenz, der Weltgeist?

2009, zu Zeiten meiner ersten viralen Kampagne, hatte ich Twitter als etwas schlampig programmiertes kleines Tool kennengelernt, das für seine Macher offenbar zu schnell gewachsen war. Aber es funktionierte ja irgendwie, dem #Hashtag sei Dank. Jetzt fällt mir auf, dass der obskure Algorithmus seitdem deutlich verändert wurde. Es fühlt sich besser an, relevanter als bei Facebook. Natürlich sehe ich das globale Getümmel nur durch ein Guckloch. Aber die kleinen Beiträge sind so sagenhaft pointiert und dabei mit tonnenschweren Inhalten und ganzen Biografien hinterlegt, dass ich mich den ganzen Tag zurückziehen könnte, um das zu studieren. Glücklicherweise darf ich das Ganze durch eine kleine Förderung der gbs als Teil meiner Arbeit betrachten.

Schnell bin ich am Haken. Was folgt, muss sich lesen wie Erlebnisse eines 12-jährigen: Fasziniert beginne ich, mich beteiligen. Also ob das bei 10 Followern irgendeine Relevanz hätte – es ist mehr „for the record“, eine Übung im Kuratieren von Inhalten und eine Art Tagebuch. Wem ich hier folge wird für mich zu einem neuen Who-is-who. Ich sondiere, was der Twitter für wichtig hält und wie sich das zu meinem Empfinden verhält. Man passt sich an, kann es schwer ignorieren – wie das SEO-Plugin, das mir Tipps gibt, wie ich schreiben soll. Man wird ein wenig zynisch: Wirklich eigener Content findet erstmal keinen Widerhall. Dagegen, die rein verbale Stellungnahme für einen von Folter bedrohten Atheisten – in der Hoffnung die massenhafte Öffentlichkeit möge einen guten Einfluss nehmen – bringt Sympathien. Das ist immerhin besser als das Gegenteil, aber eine seltsame Ökonomie.

Schnell tut sich auch das Gegenteil auf. Der ganze Hass ist nur Klicks entfernt. Den Satz „Hass ist keine Meinung“ halte ich für schwierig. Aber manchmal denke ich, dass das Internet in den ersten Jahren so konstruktiv gesehen wurde, liegt daran, dass die ganzen Vollpfosten es einfach noch nicht entdeckt hatten. Jetzt sind sie jedenfalls da. Und ich spüre körperlich, dass die Pflichtübung „ich verlasse jetzt mal meine Filterblase“ (ein logischer Widerspruch?) ungesund ist. Die philippinischen Clickworker (Content-Moderatoren) die Hass und Gewalt aus den Plattformen putzen sollen, leben vermutlich wie Feuerwehrleute um Jahre kürzer, weil der Umgang mit dem Schrecken einem psychisch zusetzt.

Die kulturtechnik Posten gebiert Haltungen, für die man sich ständig neu entscheiden muss. Ist man ein Snob, ein Dandy, ein Gourmet? Geht man in die Kneipe um sich zu prügeln? Sucht man Perlen und spinnt mit Unbekannten Gedankenfäden? Ändert sich die Welt, wenn man sich raushält? Ist @therealhabeck derselbe wie @RobertHabeck und wie steht er zu seinem Entschluss, sich von Twitter zu verabschieden, weil es ihn aggressiv macht? Bringt diese Diskursmaschine am Ende einen konstruktiven Mehrwert?

Für mich bleibt Twitter das Mittel der Wahl – und der Tweet die Darreichungsform ganzer Welten in einer Pille. Um mich zu vernetzen, eine stimmige Position zu entwickeln, eine greifbare und ansprechbare Person zu sein. Darf man so einer verflixten Plattform, die man an sich nicht mal besonders mag, so viel Vertrauen und Wohlwollen entgegenbringen? Vielleicht ist es wie mit der restlichen Welt auch: sie ist alles andere als perfekt. Und die Gesetze in dieser seltsamen Straße Namens Social Media, die sollte man mal ändern. Den Algorithmus weg bewegen von der Sensation, hin zu konstruktiveren Dingen. Da geht noch was, aber echt.

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PS: Im übrigen bin ich dafür, marktbeherrschende Social-Media-Plattformen kartellrechtlich dazu zu zwingen, offene Schnittstellen zum Senden und Empfangen von Posts auf alternativen Plattformen und Messengern bereitzustellen.