Überwachungskameras sollen mehr Sicherheit bringen. Dieses Versprechen wird nur teilweise eingelöst. Vor allem aber gibt es eine dünne Linie, die die Kamera zu einem Täter werden lässt, zu einem perfiden totalitären Instrument. Wir täten gut daran, das Überschreiten dieser Linie zu verhindern und zu bestrafen.

Heinz Buschkowsky ist ein angesehener Mann. Er war viele Jahre Bürgermeister des Berliner Bezirks Neukölln, der damals oft (und mit einigem Grund) „Problembezirk“ genannt wurde. Kein typischer Law-and-Order-Politiker, aber einer, der die Konflikte besonders um das Thema türkisch-arabische Migration (inzwischen der zweiten und dritten Generation) kannte und benannte.

Seit einiger Zeit setzt sich Buschkowsky nun für mehr Kameraüberwachung ein. 1.000 Kameras an 50 Brennpunkten der Stadt. Einige gute Argumente kann sein Bündnis dafür ins Feld führen: Straftaten werden offenbar nicht verhindert, aber es gab spektakuläre Erfolge bei der Aufklärung. Vor allem sinnlos brutale Übergriffe wie das Anzünden eines Obdachlosen oder eine Frau, die völlig mutwillig eine Treppe herunter getreten wurde, sorgten für Empörung. Die Veröffentlichung von Videoaufnahmen führte in beiden Fällen dazu, die Täter zu stellen. Auch im Kamera-übersäten London sind es vor allem die (nur) 3 Prozent der aufgeklärten Kriminalfälle, mit denen die Befürworter punkten.

Gefühlte Sicherheit und selektive Wahrnehmung

Doch Sicherheit ist vor allem ein Gefühl und deshalb ist es auch nicht entscheidend, dass Verbesserungen umgesetzt wurden, sondern dass sie geplant werden, dass eine Besserung in Aussicht steht. Jeder Innenpolitiker hat Forderungen in der Schublade, die er im Krisenfall hervorholt und „endlich“ einfordert. Damit schützt er sich gegen Anfeindungen und dreht das Zahnrad des Sicherheitsapparates einen Zahn weiter. Einmal getroffene Maßnahmen werden fast nie zurück genommen oder überprüft.

Tatsächlich hat sich die gefühlte Sicherheit im Zeitalter von Social Media von der Wirklichkeit völlig entkoppelt – wenn es jemals einen Zusammenhang gegeben hat. Schlimme und schlimmste Geschichten werden geteilt und finden (dem Algorithmus sein dank) geradezu begeistertes Interesse. Gleich wird über die Täter spekuliert, Rache phantasiert, … In der allgemeinen Hysterie steht felsenfest: Alles wird immer schlimmer, man kann sich allein nicht mehr auf die Straße trauen. Wer hier mit – womöglich statistischen – Fakten kommt, gilt zumindest als herzlos, wenn nicht Teil einer Verschwörung. Doch damit ist weder den Opfern geholfen, noch einer vernünftigen Prävention.

Kameras haben viel zu bieten

Neben aufregenden Bilder bieten Kameras aber auch Aufklärung. Die “Kantholz”-Legende um den angeblich linksradikalen Überfall auf den AfD-Politiker Frank Magnitz konnte als Lüge enttarnt werden, auch wenn die Täter nicht gestellt wurden. Dash- oder Bodycams US-amerikanischer Polizisten haben uns gezeigt, was dran ist an Vorwürfen unverhältnismäßiger Gewalt. Der Fall Kashoggy wäre ohne die (legale und illegale) Kameraüberwachung der türkischen Regierung ein diffuses Rätsel geblieben. Und nicht zuletzt sorgen Überwachungskameras immer wieder für Unterhaltung, wenn jemand volltrunken eine Zapfsäule niedermäht. 2:1 also für die Kameras? Deal with it.

Wir halten also fest: „Der liebe Gott sieht alles“ hat noch nie funktioniert, Verbrechen werden unvermindert weiter geschehen. Wir werden es sogar mit neuen Formen von Terrorismus zu tun bekommen, die eigens publikumswirksam für Überwachungskamera inszeniert werden. Wir werden Fake-Beweisvideos sehen und in sorgsamer Planung eines Verbrechens zugesprühte Kameras. Aber unser Interesse an Aufklärung und Unterhaltung ist mächtig. So sind wir gestrickt, wir wollen sehen, wie die Welt funktioniert. Und nicht zuletzt werden private Kameras installiert, in Hülle und Fülle. Der Drops, „ob wir mehr Kameraüberwachung brauchen“, ist also längst gelutscht.

Zu reden ist allerdings über Verhältnismäßigkeit. Und über Datenschutz.

Mit der installation von Kameras ist es ja nicht getan, sondern sie werden bedient und ausgewertet. Die Auswertung geschieht zunehmend durch künstliche Intelligenz, die entscheidet, wann eine Situation auffällig ist, die unseren Gang analysiert, die Personen erkennt. Tonaufnahmen werden als nächstes eingeführt und auch hier wird eine Auswertung erfolgen. Wo wird gerufen, wo werden Schlüsselwörter verwendet („Hilfe“, …), was genau wird gesprochen … Die Skala führt stufenlos in eine Totalüberwachung, deshalb müssen willkürliche Grenzen verhandelt und gezogen werden.

Jeder vernünftige Mensch hat ein Gespür dafür, dass man nicht überall beobachtet werden sollte. Im privaten Bereich, beim Waldspaziergang, im Café möchte man unbefangen sprechen und sich bewegen können, ohne belauscht oder beobachtet zu werden. Nur, wo ziehen wir die Grenze? Ist öffentlicher Raum künftig immer überwachter Raum? Wie lange bewahren wir Aufnahmen auf? Wer bestimmt, was ein „Brennpunkt“ ist? Tun wir der organisierten Kriminalität einen Gefallen damit, uns auf unorganisierte Kriminalität zu fokussieren? Wer wertet die Aufnahmen wie aus und entscheidet, wo einzuschreiten ist?

Eine deutliche Grenze ist die Personenerkennung

In China und in den USA, aber auch in Deutschland wird bereits seit längerem damit experimentiert, Personen massenhaft zu tracken, harmlose Passanten quasi Reihenweise erkennungsdienstlich zu behandeln. Dabei spielt nicht nur die Gesichtserkennung eine Rolle, sondern auch die Gangart und andere äußerliche Faktoren und natürlich das Handy. Schnell können hier Auffälligkeiten extrapoliert werden: Person X scheint aufgeregt zu sein. Warum ist Person Y heute mit einem fremden Handy unterwegs? Dissident Z ist in letzter Zeit häufiger mit einer neuen Person unterwegs.

Die klingt natürlich übertrieben und zumindest in Deutschland möchte man keinem Kamera-Fan unterstellen, dass er es so weit treiben möchte. Aber die schiefe Ebene der Begehrlichkeiten ist bekannt. Nachdem für die Erhebung der Autobahn-Maut begonnen wurde, Autokennzeichen zu erfassen, hat es genau keine Zeit gebraucht, bis Kriminalisten Zugriff auf die Daten haben wollten, um sie auszuwerten und Bewegungsprofile zu erstellen. Das ist verständlich. Was technisch machbar ist, verlockt. Aber es bedeutet eine Konzentration von Macht, die wir nicht dulden dürfen.

Doch auch hier gilt wieder: „Ich habe doch nichts zu verbergen“ gilt nicht, wenn es um das Instrumentarium totalitärer Überwachung geht. Denn von Freiheit und einer pluralen Gesellschaft profitieren wir alle.

 

„Ich liebe euch doch alle“ (Erich Mielke)

Was wir also dringend brauchen, ist ein geschärftes Empfinden dafür, was legitim ist und was die Grenzen unserer Freiheit überschreitet. Dieses Empfinden darf sich nicht erpressen lassen von drastischen Darstellungen, welche himmelschreiende Gemeinheit hätte verhindert werden können. Die selben Gründe, die gegen Folter und Todesstrafe sprechen, sprechen gegen anlasslose Massenüberwachung: Sie ist totalitär, gefährlich, unmenschlich, untauglich und fehlerhaft.

Und wir müssen beginnen, die Überschreitung der Grenzen nicht als gut gemeintes Kavaliersdelikt zu behandeln. Wer an der Einschränkung unserer freiheitlichen Gesellschaft mitwirkt, verlässt den Boden der FDGO. Bei hochrangigen Beamten könnte das bis zum schweren Delikt des Verfassungshochverrats gehen. Dafür fehlt bisher jegliches Bewusstsein, denn man meint es ja gut. Man möchte ja diese wirklich hinterhältigen Terroristen fassen, da kann es doch nicht sein, dass einem die Hände gebunden werden! Solange nicht jemand wegen Datenschutz-Delikten für 10 Jahre ins Gefängnis geht, werden diese nicht ernst genommen.

Liebe Freunde, lasst es uns nochmal nüchtern betrachten:

• Keine Terrororganisation hat auch nur annähernd so viele Opfer auf dem gewissen wie staatlicher Terror.
• Auch die demokratischsten Staaten sind nicht sicher vor totalitären Umschwüngen, die sogar demokratisch legitimiert sein mögen.
• Anlasslose Bewegungsprofile, Lauschangriffe etc. sind eine Grundlage illegitimer Überwachungsstaaten.
• Anlasslose Massenüberwachung ist kein effektives Mittel zur Gewaltprävention.
• Anlasslose Massenüberwachung ist kein effektives Mittel zur Bekämpfung organisierter Kriminalität.
• Anlasslose Massenüberwachung ist kein effektives Mittel zur Terrorbekämpfung.
• Terror zielt auf Hysterie und darauf, dass wir unsere Freiheit aufgeben zugunsten von Sicherheit.
• Terror braucht starke Bilder – wie sie Überwachungskameras liefern.

Kameras müssen daher technischen Regeln folgen, die eine heimliche Beobachtung ausschließen (rote Lampe), die aufgenommenes Material zeitlich begrenzen (2 Tage? 30 Tage?) und die Gesprächsmitschnitte und eine Personenerkennung strikt ausschließen.

„Im Zweifel für die Freiheit“ (Willy Brandt)

Halten wir es mit Willy Brandt. Halten wir es aus, manche Dinge nicht zu tun (die manch schlimmes Übel verhindern könnten), wenn sie unsere Freiheit ernsthaft gefährden. Wir müssen uns entscheiden, zwischen gefühlter Sicherheit mit dem Instrumentarium der Sklaverei im Stile Chinas oder einem Rest Unsicherheit und dem Gefühl, frei atmen, sprechen und ausschreiten zu können. Alles dazwischen, alles was keine klare Linie zieht, ist Augenwischerei.

Und dieses Aushalten von Unsicherheit und Eigenverantwortung – das ist Freiheit.

Nachsatz: 

Heinz Buschkowsky hat, anders als viele Sicherheitsfans, in seinem Leben viel dafür getan, die Spannungen in seinem Bezirk abzubauen. Er hat nicht lamentiert, sondern hat initiiert, die Nähe gesucht, mit Menschen gesprochen und gestritten, sie ernst genommen. Davon wünscht man sich mehr. Die Wahlergebnisse der AfD sind dort am höchsten, wo es die wenigsten Migranten gibt. Das zeigt, dass sie sich aus diffuser Angst speisen, aus Misstrauen gegen die positive Kriminalstatistik, aus der Hysterie über jeden neuen Kriminalfall.

Jeder, der „mehr Überwachungskameras“ fordert, sollte sich daher zwei Dinge überlegen:
• Wo bin ich bereit, Grenzen der Überwachung zu akzeptieren, auch wenn diese weniger Sicherheit bedeuten?
• Was kann ich tun, um mich für ein friedliches Miteinander zu engagieren und den vermeintlichen oder tatsächlichen Gefährdern eine andere Perspektive aufzuzeigen?

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