diesen Beitrag hörenBei der Beschäftigung mit dieser Frage fand ich eine Podiumsdiskussion des Web Summit 2018, die genau dieses Thema behandelt. Man kann daran gut die Positionen aufzeigen und bei der Gelegenheit einige Missverständnisse ausräumen. (Man muss das Video nicht anschauen, um den Artikel zu lesen.)

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Hinweis: Der hier verwendete Begriff „Menschenrechte“ bezieht sich im Folgenden immer auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (AEMR) von 1948.

„Ja!“

 

In Umfragen sind ca. 90 Prozent der Befragten der Meinung, dass wir digitale Menschenrechte brauchen. So sieht es auch das Publikum in diesem Video. Auf die Frage, ob „Menschenrechte auch online gelten sollen“, ist die Zustimmung noch höher. Auch die UN-Generalversammlung ist diesem Verständnis in einer Resolution 2012 gefolgt. 

Dieses Ergebnis drückt das Bedürfnis nach Richtlinien aus, die unseren Grundrechten auch online und weltweit Geltung verschaffen mögen. Und danach, diese Regeln genauer zu definieren, denn manche Grundrechte können sich gegenseitig widersprechen. Z.B. die Menschenrechts-Artikel 19: Meinungsfreiheit und Artikel 12: das Recht auf Schutz vor Angriffen auf Ehre und Ansehen.

Bei dem anwesenden Tech-Publikum wird es auch der Wunsch nach klaren ethischen Maßstäben sein, die bei der Entwicklung von Online-Lösungen anzulegen sind. (Der von Tim Barnes Lee vorgeschlagene Vertrag für das Web versucht z.B. solche Regeln zu erarbeiten.) So smart und erfreulich verantwortungsbewusst das auch sein mag, es weist uns auf ein häufiges Missverständnis hin.

Menschenrechte sind Abwehrmechanismen gegen den Staat.

Sie sind keine gültige Rechtsprechung. Sie sind keine Wunschliste. Und sie fordern Privatpersonen oder Unternehmen nicht auf, sich ihnen gemäß zu verhalten, weil Privatpersonen und die Wirtschaft nun mal von Natur aus ihr eigenes Ding machen.

Wenn du also findest, dass Google sich in Bezug auf deine Daten unanständig verhält, solltest du dich lieber an die Nutzungsbedingungen (zivilrechtliche Vereinbarungen) bei Google halten als an die Menschenrechte. Dass diese Bedingungen dir unter ziemlich fiesen, monopolistischen Umständen auferlegt wurden, mag unfair sein und sollte staatlich reguliert werden (wenn die Staaten einfach mal ihren Job machen würden!). Aber letztlich haben nur die Staaten sich verpflichtet, ihre Gesetzgebung gemäß den Menschenrechten zu gestalten.

Allerdings haben die Menschenrechte eine „ausstrahlende“ Wirkung. Durch diesen langen Hebel wirkt die AEMR auf nationale Gesetze, die den Rahmen für unser Verhalten und das der Märkte bildet. Der Hebel hat sich als stärker erwiesen, als 1948 ursprünglich zu erwarten war. Aber er braucht seine Zeit und funktioniert leider auch nicht perfekt.

Wenn wir also faire Nutzungsbedingungen haben wollen, sollten wir uns nicht nur auf den langen Prozess einer möglichen Charta der digitalen Menschenrechte verlassen. Wir sollten Druck auf die Staaten, die Zivilgesellschaften und die Unternehmen selbst ausüben. Z.B. die allmächtigen Social-Media-Konzerne dazu zwingen, ihre Schnittstellen und Protokolle für alternative Anbieter zu öffnen, wie es das Kartellrecht eigentlich erzwingen müsste.

Es mag gruselig klingen, aber die Menschenrechte schützen uns nicht davor, uns allmächtigen Algorithmen zu unterwerfen, unsere Babys genetisch zu manipulieren oder in unseren Häusern ausspioniert zu werden. Aber sie dienen als starke Referenz, wenn es darum geht, Staaten zu zwingen, all dies zu verhindern.

 

„Nein!“

 

Von den Podiumsteilnehmer*innen fand niemand die Idee einer solchen Erklärung gut.

Es gibt vertretbare Argumente, sich gegen eine Erklärung der digitalen Menschenrechte auszusprechen:

  • Die Menschenrechte gibt es schon und sie sind sehr klar formuliert.
  • Wir sollten die bestehenden Menschenrechte erst mal anwenden, bevor wir an neue denken.
  • Die Menschenrechte gelten nicht automatisch, wenn sie einmal erklärt wurden.
  • Der Prozess dauert viel zu lange, unsere digitale Wirklichkeit ist viel schneller.
  • Es gibt bessere Wege, unsere Ziele zu erreichen.
  • Menschenrechte sind generell Wunschdenken.
  • In manchen Ländern wird die AEMR nicht mal vollständig akzeptiert (z.B. in Russland und den arabischen Ländern, wegen religiöser Vorbehalte).
  • China wird das nie im Leben unterschreiben.

 

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist ein abgeschlossener Prozess und wird nicht infrage gestellt. Menschenrechts-Chartas haben den Zweck, die Details von Aspekten zu beleuchten und auszuformulieren.

 

All dies mag stimmen und einige Leute, die sich näher mit der Sache befassen, tendieren deswegen zu einem „Nein“. Vor allem die Aussicht auf Verhandlungen in Zeitlupe und die fragliche Wirksamkeit einer solchen Erklärung legen einen Plan B dringend nahe. Viele Organisationen konzentrieren sich daher auf die praktische Durchsetzung der Menschenrechte – ein guter Standpunkt, den ich absolut unterstützen kann.

Jedoch, auf lange Sicht wagt sich die Menschheit in große und neue Gewässer vor. Wir werden bessere und präzisere Instrumente brauchen, um es mit den neuen Verhältnissen aufzunehmen. Ganz offensichtlich wird unser digitales Selbst in Zukunft ein wichtiger Teil unserer Person. Unsere Grundrechte werden daher von Informationstechnologie abhängen, wie das Recht auf Leben von Luft und Wasser abhängt. Deshalb muss dem Kompass der Menschenrechte auch in der digitalen Sphäre auf lange Sicht und weltweit Geltung verschafft werden.

 

„Ja, …“

 

Wir denken, dass eine digitale Charta genauso notwendig ist, wie die Kinder- oder Frauenrechts-Charta es waren.

Viele offene Fragen der Digitalisierung müssen von Seiten der Menschenrechte beantwortet werden – und werden es noch nicht. Vieles ist noch in der Diskussion.

Autoritäre Staaten sehen keine Widersprüche zwischen der bestehenden AEMR und ihrem krassen Verhalten. Beispiele gibt es unzählige:

  • Die Geheimdienste Großbritanniens und der USA nutzen deren Zugang zu Unterseekabeln für einen Komplett-Zugriff auf den Datentransfer.
  • China etabliert einen allmächtiges Punktekonto für das Wohlverhalten ihrer Bürger (inkl. politischem Opportunismus)
  • Abschaltungen des kompletten Internets (oder wesentlicher Teile davon) bei politischen Unruhen sind vielerorts an der Tagesordnung.
  • Staatliche Dienste sammeln systematisch Material, um jede beliebige Person zu erpressen – etwa Politiker, Journalisten oder Umweltaktivisten.
  • Staaten versuchen, den inneren Frieden in anderen Ländern oder den Ruf einzelner Personen zu schädigen, indem sie systematisch Fake News verbreiten.
  • Staatliche Stellen üben Druck auf Soft- und Hardwarehersteller aus, um Backdoors standardmäßig in Konsumgeräte zu implementieren. Diese dürfen nicht einmal darüber sprechen, dass sie unter Druck gesetzt werden.
  • und so weiter …

 

All diese Vergehen widersprechen eindeutig dem Geist der Menschenrechte. Dennoch werden sie fröhlich weiter praktiziert und mit anderen Grundrechten gerechtfertigt – z.B. dem Schutz der öffentlichen Sicherheit (Art. 3), der Ehre irgendeines Präsidenten (Art. 12). Digitale Grundrechte haben schlechte Karten, wenn man sich nicht eindeutig auf sie berufen kann.

Vieles, was uns heute in der digitalen Sphäre wichtig ist, findet in der Erklärung von 1948 keine begriffliche Entsprechung. So ist dort z.B. von „Eingriffen oder Beeinträchtigungen“ in Bezug auf die Privatsphäre die Rede. Eine gar nicht spürbare Profilerstellung oder Total-Überwachung könnte dagegen durchaus als legal interpretiert werden. Dabei kann man sich nun mal nicht frei fühlen, wenn man weiß, dass alle Gedanken und Bewegungen registriert werden – etwa von einer Regierung, gegen die man opponiert. (Das hat auch das Bundesverfassungsgericht 1983 in einer Grundsatzentscheidung völlig zu Recht festgestellt.)

Meinungsfreiheit und ein Recht auf Bildung waren damals bekannt. Nicht bekannt waren selbstlernende Algorithmen, informationelle Selbstbestimmung oder die Möglichkeit, dass Menschen von Grundbedürfnissen und Teilhabe ausgeschlossen werden könnten, wenn diese an den Einsatz von IT gekoppelt werden.

Eine Charta digitaler Grundrechte soll solche offenen Fragen klären und der Gesetzgebung Ziele zu den digitalen Aspekten der Menschenrechte auferlegen. Genau das wollen wir auf lange Sicht erreichen. Auch wenn die Chancen gering sind, dass eine Charta innerhalb einer angemessenen Frist angenommen wird, so bildet schon der Versuch einen Rahmen für die Diskussion und die Festlegung von Standards, auf die sich einige fortschrittliche Staaten beziehen können.

Deshalb haben wir in der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) Vorschläge für eine Charta der digitalen Menschenrechte diskutiert, formuliert und der UNO übergeben. Vor dem Hintergrund breiter Diskussionen in Deutschland, der EU und weltweit, glauben wir, die wichtigsten Themen einer solchen Charta behandelt zu haben. Einige Dinge (wie das Recht auf Nicht-Information ), haben wir ausgelassen, weil wir meinen, dass sie nicht der Gesetzgebung unterliegen sollten.

Unser Vorschlag ist nicht perfekt, wir sind nicht größenwahnsinnig. Aber es ist ein Ansatz und wir möchten ihn in die Diskussion einbringen und mit anderen Vorschlägen vergleichen. Wenn ihr uns unterstützen möchtet, verbreitet gern unsere Ideen oder nehmt mit uns Kontakt auf.

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